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Verfassungsbeschwerden gegen Verurteilungen wegen Geschwindigkeitsüberschreitung erfolgreich

29. Januar 2025

Verfassungswidrige Versagung des Zugangs zu bei der Bußgeldbehörde vorhandenen Informationen 1 VB 173/21, 1 VB 36/22, 1 VB 11/23

Der Verfassungsgerichtshof für das Land Baden-Württemberg hat mit Urteilen vom 27. Januar 2025 über drei Verfassungsbeschwerden gegen Verurteilungen in Verkehrs Ordnungswidrigkeitenverfahren entschieden. Die angegriffenen Entscheidungen der Amtsgerichte Stuttgart und Ellwangen (Jagst) sowie in einem Fall zudem die Rechtsbeschwerdeentscheidung des Oberlandesgerichts Stuttgart verletzen die Beschwerdeführer in ihrem Recht auf ein faires Verfahren, da den Beschwerdeführern die Einsicht in bei der Bußgeldbehörde vorhandene Daten der Geschwindigkeitsmessung und Unterlagen des Messgeräts, die nicht Teil der Bußgeldakte waren, versagt wurde. Der Verfassungsgerichtshof hat die Entscheidungen aufgehoben und die Sache jeweils zur erneuten Entscheidung an das Amtsgericht zurückverwiesen.

Sachverhalt

Den Beschwerdeführern wird vorgeworfen, als Kraftfahrzeugführer die zulässige Höchstgeschwindigkeit überschritten zu haben. Ihnen wurden deshalb zunächst mit Bußgeldbescheid und anschließend Urteil des Amtsgerichts Geldbußen zwischen 80 und 320 Euro zum Teil mit einmonatigem Fahrverbot auferlegt. Ihre dagegen beim Oberlandesgericht Stuttgart eingelegten Rechtsmittel blieben erfolglos. Während des Bußgeldverfahrens sowie des gerichtlichen Verfahrens begehrten die Beschwerdeführer wiederholt die Übermittlung von bei der Bußgeldbehörde vorhandenen, aber nicht bei der Bußgeldakte befindlichen Messdaten bzw. Wartungs- und Reparaturunterlagen des Messgeräts. Eine Einsicht wurde ihnen nicht bzw. nur unvollständig gewährt.

Wesentliche Erwägungen des Verfassungsgerichtshofs

Die Verfassungsbeschwerden sind, soweit die Beschwerdeführer eine Verletzung des Grundsatzes des fairen Verfahrens aufgrund der unterbliebenen Einsichtsgewährung in die begehrten Messdaten bzw. Wartungs- und Reparaturunterlagen rügen, zulässig und begründet.

Wie das Bundesverfassungsgericht bereits festgestellt hat, folgt aus dem Recht auf ein faires Verfahren grundsätzlich ein Anspruch auf Zugang zu den nicht bei der Bußgeldakte befindlichen, aber bei der Bußgeldbehörde vorhandenen Informationen. Hierbei handelt es sich nicht um eine Frage der gerichtlichen Aufklärungspflicht, sondern der Verteidigungsmöglichkeiten des Betroffenen. Der Beschuldigte eines Strafverfahrens bzw. Betroffene eines Ordnungswidrigkeitenverfahrens hat neben der Möglichkeit, prozessual im Wege von Beweisanträgen oder Beweisermittlungsanträgen auf den Gang der Hauptverhandlung Einfluss zu nehmen, grundsätzlich auch das Recht, Kenntnis von solchen Inhalten zu erlangen, die zum Zweck der Ermittlung entstanden sind, aber nicht zur Akte genommen wurden. Dadurch werden seine Verteidigungsmöglichkeiten erweitert, weil er selbst nach Entlastungsmomenten suchen kann, die zwar fernliegen mögen, aber nicht schlechthin auszuschließen sind. Die möglicherweise außerhalb der Verfahrensakte gefundenen entlastenden Informationen können von der Verteidigung zur fundierten Begründung eines Antrags auf Beiziehung vor Gericht dargelegt werden. Der Betroffene kann so das Gericht, das von sich aus diese Informationen nicht beizieht, auf dem Weg des Beweisantrages oder Beweisermittlungsantrages zur Heranziehung veranlassen.

Quelle: Pressemitteilung des Verfassungsgerichtshof Baden-Württemberg vom 29.01.2025

Erschütterung des Beweiswerts einer im Nicht-EU-Ausland erstellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung

16. Januar 2025

Der Beweiswert einer im Nicht-EU-Ausland ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung kann erschüttert sein, wenn nach der vorzunehmenden Gesamtbetrachtung des zu würdigenden Einzelfalls Umstände vorliegen, die zwar für sich betrachtet unverfänglich sein mögen, in der Gesamtschau aber ernsthafte Zweifel am Beweiswert der Bescheinigung begründen. Insoweit gelten die gleichen Grundsätze wie bei einer in Deutschland ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung.

Der Kläger ist seit 2002 als Lagerarbeiter bei der Beklagten mit einem durchschnittlichen Bruttomonatsgehalt von zuletzt 3.612,94 Euro beschäftigt. In den Jahren 2017, 2019 und 2020 legte er der Beklagten im direkten zeitlichen Zusammenhang mit seinem Urlaub Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vor. Vom 22. August bis zum 9. September 2022 hatte der Kläger Urlaub, den er in Tunesien verbrachte. Mit E-Mail vom 7. September 2022 teilte er der Beklagten mit, er sei bis zum 30. September 2022 krankgeschrieben. Beigefügt war ein Attest vom 7. September 2022 eines tunesischen Arztes, der in französischer Sprache bescheinigte, dass er den Kläger untersucht habe, dieser an „schweren Ischialbeschwerden” im engen Lendenwirbelsäulenkanal leide, der Kläger 24 Tage strenge häusliche Ruhe bis zum 30. September 2022 benötige und er sich während dieser Zeit nicht bewegen oder reisen dürfe. Einen Tag nach dem Arztbesuch buchte der Kläger am 8. September 2022 ein Fährticket für den 29. September 2022 und reiste an diesem Tag mit seinem PKW zunächst mit der Fähre von Tunis nach Genua und dann weiter nach Deutschland zurück. Danach legte er der Beklagten eine Erstbescheinigung eines deutschen Arztes vom 4. Oktober 2022 vor, in der Arbeitsunfähigkeit bis zum 8. Oktober 2022 bescheinigt wurde. Nachdem die Beklagte dem Kläger mitgeteilt hatte, dass es sich ihrer Auffassung nach bei dem Attest vom 7. September 2022 nicht um eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung handele, legte der Kläger eine erläuternde Bescheinigung des tunesischen Arztes vom 17. Oktober 2022 vor, in welcher der Arzt bescheinigte, den Kläger am 7. September 2022 untersucht zu haben. Weiter heißt es: „Er hatte eine beidseitige Lumboischialgie, die eine Ruhepause mit Arbeitsunfähigkeit und Reiseverbot für 24 Tage vom 07/09/2022 bis zum 30/09/2022 erforderlich machte.“ Die Beklagte lehnte die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall ab und kürzte die Vergütung für September 2022 um 1.583,02 Euro netto. Mit seiner Klage hat der Kläger zuletzt Entgeltfortzahlung für September 2022 in dieser Höhe verlangt. Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat das Urteil abgeändert und die Beklagte zur Zahlung verurteilt.

Die Revision der Beklagten hatte vor dem Fünften Senat Erfolg. Das Landesarbeitsgericht hat zwar im Ausgangspunkt zutreffend erkannt, dass einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, die in einem Land außerhalb der Europäischen Union ausgestellt wurde, grundsätzlich der gleiche Beweiswert wie einer in Deutschland ausgestellten Bescheinigung zukommt, wenn sie erkennen lässt, dass der ausländische Arzt zwischen einer bloßen Erkrankung und einer mit Arbeitsunfähigkeit verbundenen Krankheit unterschieden hat. Das Berufungsgericht hat aber bei der Würdigung der von der Beklagten zur Begründung ihrer Zweifel an der bescheinigten Arbeitsunfähigkeit vorgetragenen tatsächlichen Umstände nur jeden einzelnen Aspekt isoliert betrachtet und die rechtlich gebotene Gesamtwürdigung unterlassen. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass der tunesische Arzt dem Kläger für 24 Tage Arbeitsunfähigkeit bescheinigte, ohne eine Wiedervorstellung anzuordnen. Weiter buchte der Kläger bereits einen Tag nach der attestierten Notwendigkeit häuslicher Ruhe und des Verbots, sich bis zum 30. September 2022 zu bewegen und zu reisen, ein Fährticket für den 29. September 2022 und trat an diesem Tag die lange Rückreise nach Deutschland an. Zudem hatte er bereits in den Jahren 2017 bis 2020 dreimal unmittelbar nach seinem Urlaub Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vorgelegt. Diese Gegebenheiten mögen – wie das Landesarbeitsgericht angenommen hat – für sich betrachtet unverfänglich sein. In einer Gesamtschau begründen sie indes ernsthafte Zweifel am Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung. Das hat zur Folge, dass nunmehr der Kläger die volle Darlegungs- und Beweislast für das Bestehen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit als Voraussetzung für den Entgeltfortzahlungsanspruch nach § 3 Abs. 1 EFZG trägt. Da das Landesarbeitsgericht – aus seiner Sicht konsequent – hierzu keine Feststellungen getroffen hat, war die Sache insoweit zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landesarbeitsgericht zurückzuverweisen.

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 15. Januar 2025 – 5 AZR 284/24
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht München, Urteil vom 16. Mai 2024 – 9 Sa 538/23 –

Quelle: Pressemitteilung 1/25 des Bundesarbeitsgerichtes vom 15.01.2025

Erfolglose Verfassungsbeschwerde gegen Polizeikosten bei Hochrisikospielen

14. Januar 2025

Mit heute verkündetem Urteil hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts entschieden, dass die Erhebung einer Gebühr für den polizeilichen Mehraufwand bei „Hochrisikospielen“ der Fußball-Bundesliga in der Freien Hansestadt Bremen mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Die Verfassungsbeschwerde der DFL Deutsche Fußball Liga GmbH blieb daher erfolglos.

Nach dem im November 2014 in Kraft getretenen § 4 Abs. 4 des Bremischen Gebühren- und Beitragsgesetzes (BremGebBeitrG) wird bei Veranstalterinnen und Veranstaltern für den polizeilichen Mehraufwand bei gewinnorientierten, erfahrungsgemäß gewaltgeneigten Großveranstaltungen mit mehr als 5.000 Personen eine Gebühr erhoben, welche nach dem Mehraufwand zu berechnen ist, der aufgrund der Bereitstellung zusätzlicher Polizeikräfte entsteht.

Diese Regelung greift in die durch Art. 12 Abs. 1 Grundgesetz (GG) geschützte Berufsfreiheit der Veranstalterinnen und Veranstalter zwar ein. Der Eingriff ist aber verfassungsrechtlich gerechtfertigt, da die Norm formell und materiell verfassungsgemäß ist. Die Norm genügt als Berufsausübungsregelung insbesondere den Anforderungen der Verhältnismäßigkeit. Die Regelung ist auch mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar.

Sachverhalt:

Gemäß § 4 Abs. 4 BremGebBeitrG wird bei Veranstalterinnen und Veranstaltern für den polizeilichen Mehraufwand bei gewinnorientierten, erfahrungsgemäß gewaltgeneigten Großveranstaltungen mit mehr als 5.000 Personen eine Gebühr erhoben, welche nach dem Mehraufwand zu berechnen ist, der aufgrund der Bereitstellung zusätzlicher Polizeikräfte entsteht.

Im Hinblick auf das am 19. April 2015 angesetzte Spiel der Fußball-Bundesliga zwischen dem SV Werder Bremen und dem Hamburger SV im Bremer Weserstadion unterrichtete die Polizei Bremen die Beschwerdeführerin unter Verweis auf § 4 Abs. 4 BremGebBeitrG über ihre voraussichtliche Gebührenpflicht als Veranstalterin. Nach den damaligen Erkenntnissen und Informationen sei am Spieltag mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit mit gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Fans der Vereine zu rechnen, wenn dem nicht durch den Einsatz von starken Polizeikräften und durch entsprechende Einsatzmaßnahmen effektiv begegnet werde. Am Spieltag selbst verlief der Gesamteinsatz, bei dem die Bremer Polizei von Einsatzkräften aus Schleswig-Holstein, Hamburg, Hessen und der Bundespolizei unterstützt wurde, nach Bewertung der Polizeiführung insgesamt reibungslos. Die Polizei Bremen erließ gegenüber der Beschwerdeführerin als Veranstalterin des Spiels einen Bescheid über die Erhebung von Gebühren in Höhe eines mittleren sechsstelligen Eurobetrags für den erforderlichen Einsatz zusätzlicher Polizeikräfte.

Nachdem der hiergegen erhobene Widerspruch der Beschwerdeführerin erfolglos geblieben war, hob das Verwaltungsgericht den angefochtenen Gebührenbescheid in Gestalt des Widerspruchsbescheids auf die Klage der Beschwerdeführerin auf.

Auf die Berufung der Freien Hansestadt Bremen hat das Oberverwaltungsgericht das Urteil des Verwaltungsgerichts aufgehoben und die Klage der Beschwerdeführerin abgewiesen. Die Gebührenregelung des § 4 Abs. 4 Sätze 1 und 2 BremGebBeitrG sei verfassungsgemäß. In der gegen dieses Urteil gerichteten Revision hat das Bundesverwaltungsgericht das Urteil des Oberverwaltungsgerichts zwar aufgehoben, in der Sache aber weitgehend die Rechtsauffassung des Oberverwaltungsgerichts bestätigt.

Nach der Zurückverweisung hat das Oberverwaltungsgericht das Urteil des Verwaltungsgerichts erneut aufgehoben und die Klage der Beschwerdeführerin abgewiesen.

Mit der Verfassungsbeschwerde wendet sich die Beschwerdeführerin gegen die Entscheidungen des Oberverwaltungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts sowie vorrangig gegen die Gebührenregelung selbst und rügt unter anderem eine Verletzung ihrer Grundrechte aus Art. 12 Abs. 1 GG und Art. 3 Abs. 1 GG.

Wesentliche Erwägungen des Senats:

Die nur teilweise zulässige Verfassungsbeschwerde ist unbegründet.

I. § 4 Abs. 4 BremGebBeitrG greift zwar in die durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützte Berufsfreiheit der Veranstalterinnen und Veranstalter ein. Der Eingriff ist aber verfassungsrechtlich gerechtfertigt.

1. Die Norm ist formell verfassungsgemäß, insbesondere steht dem Land insoweit die Gesetzgebungskompetenz nach Art. 70 GG zu. Gebühren fallen in die Kategorie der nichtsteuerlichen Abgaben und weisen als Vorzugslasten Merkmale auf, die sie verfassungsrechtlich notwendig von der Steuer unterscheiden. Als Gebühren lassen sich danach öffentlich-rechtliche Geldleistungen verstehen, die aus Anlass individuell zurechenbarer Leistungen durch eine öffentlich-rechtliche Norm oder eine sonstige hoheitliche Maßnahme auferlegt werden und insbesondere dazu bestimmt sind, in Anknüpfung an diese Leistungen deren Kosten ganz oder teilweise zu decken oder deren Vorteil oder deren Wert auszugleichen. Bei der durch § 4 Abs. 4 BremGebBeitrG begründeten Geldleistungspflicht handelt es sich um eine nichtsteuerliche Abgabe in Form einer Gebühr, da sie für die öffentliche Leistung der konkreten Bereitstellung zusätzlicher Polizeikräfte deren Kosten (also den Mehraufwand) den Veranstalterinnen und Veranstaltern auferlegt.

2. § 4 Abs. 4 BremGebBeitrG ist auch materiell verfassungsgemäß. Insbesondere genügt die Norm als Berufsausübungsregelung den Anforderungen der Verhältnismäßigkeit und dem Bestimmtheitsgebot.

a) Die Regelung zielt darauf ab, die durch die Durchführung der näher beschriebenen Veranstaltungen entstandenen Mehrkosten der Polizei auf die Veranstalterinnen und Veranstalter abzuwälzen, wobei die Kosten an die Stelle verlagert werden sollen, an der die Gewinne anfallen. Auf diese Weise sollen die Mehrkosten der Polizeieinsätze nicht durch die Gesamtheit der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler, sondern jedenfalls auch durch die (un)mittelbaren wirtschaftlichen Nutznießerinnen und Nutznießer der Polizeieinsätze geschultert werden. Dies ist ein legitimes Ziel.

Der Legitimität des mit § 4 Abs. 4 BremGebBeitrG verfolgten Ziels steht kein verfassungsrechtlich verbürgtes generelles Gebührenerhebungsverbot im Polizeirecht entgegen. Die Verfassung kennt keinen allgemeinen Grundsatz, nach dem die polizeiliche Sicherheitsvorsorge durchgängig kostenfrei zur Verfügung gestellt werden muss. Die Gefahrenvorsorge ist keine allgemeine staatliche Tätigkeit, die zwingend ausschließlich aus dem Steueraufkommen zu finanzieren ist.

b) Die Gebührenpflicht ist zur Erreichung des Ziels auch geeignet und erforderlich.

c) Die mit der Gebührenerhebung verbundenen Einschränkungen der nach Art. 12 Abs. 1 GG geschützten beruflichen Freiheit sind angemessen.

aa) Die Gebühr wird insbesondere als Gegenleistung für eine individuell zurechenbare Leistung erhoben.

(1) Es besteht ein hinreichendes Näheverhältnis der Gebührenpflichtigen zur öffentlichen Leistung, also dem Mehraufwand des Polizeieinsatzes. Die Zurechenbarkeit rechtfertigt sich dabei aus einer Gesamtschau mehrerer Gesichtspunkte, die überwiegend dem Veranlasserprinzip zuzuordnen sind.

(a) Indem sie eine Veranstaltung durchführen, bei der erfahrungsgemäß Gewalthandlungen in erheblichem Maße zu erwarten sind (Hochrisikoveranstaltung), veranlassen die Veranstalterinnen und Veranstalter eine deutlich gesteigerte staatliche Sicherheitsvorsorge, nehmen damit begrenzte öffentliche Ressourcen in deutlich übermäßigem Umfang in Anspruch und begründen so ein Näheverhältnis zu der erbrachten staatlichen Leistung, welche ohne die Hochrisikoveranstaltung nicht notwendig wäre.

Zwischen dem Aufwand und der Verursachung besteht dabei auch bei wertender Betrachtung ein Näheverhältnis. Die Nähe zum gebührenpflichtigen Mehraufwand wird im vorliegenden Fall auch durch den besonderen Umfang des Aufwands begründet, der in abgrenzbarer Weise durch die Veranstaltung und gerade nicht durch die Allgemeinheit verursacht wird.

Die sicherheitsrechtliche Lage in einer Stadt, in der eine Hochrisikoveranstaltung durchgeführt wird, unterscheidet sich von einer Normallage in einer Weise, die bei wertender Betrachtung die Einschätzung des Gesetzgebers, hier liege eine quantitative Sondernutzung der Sicherheitsgewährleistung vor, hinreichend trägt. So wurde bei dem Hochrisikospiel, das dem vorliegenden Verfassungsbeschwerdeverfahren zugrunde liegt, ein Vielfaches an Polizeikräften im Vergleich zu „Nicht-Hochrisikospielen“ eingesetzt.

Die besondere Nähe zu der kostenverursachenden Bereitstellung zusätzlicher Polizeikräfte ist weiter auch deshalb gegeben, weil die Durchführung einer Hochrisikoveranstaltung eine besondere Gefahrträchtigkeit in sich birgt und dadurch übermäßig die begrenzten öffentlichen Ressourcen bindet. Insbesondere bei Hochrisikofußballspielen ist die Bereitstellung zusätzlicher Polizeikräfte wegen der besonderen Gefahrträchtigkeit plausibel und wird durch langjährige Erfahrungen gestützt.

(b) Die von § 4 Abs. 4 BremGebBeitrG erfassten staatlichen Maßnahmen besitzen weiter deshalb einen spezifischen Bezug zu den in der Vorschrift genannten Veranstaltungen, weil sie gerade deren Durchführung ermöglichen. Die Veranstalterinnen und Veranstalter sind objektiv, ohne es beantragt oder ausdrücklich erwünscht zu haben, Nutznießerinnen und Nutznießer dieser Bereitstellung von Polizeikräften. Die hierdurch ermöglichte Risikominimierung kommt ihnen zugute, weil sie ohne diese ihre Veranstaltung nicht oder zumindest nicht in der gewählten Form ausrichten könnten.

(2) Die individuelle Zurechnung setzt auch nicht die polizeiliche Verantwortlichkeit der Veranstalterinnen und Veranstalter voraus. Das Grundgesetz kennt keinen entsprechenden Grundsatz.

(3) Die durch eine gefahrträchtige Großveranstaltung veranlasste erhöhte Sicherheitsvorsorge bleibt den Veranstalterinnen und Veranstaltern zurechenbar, auch wenn die Realisierung der Gefahr von einem – gegebenenfalls rechtswidrigen – Verhalten Dritter abhängt. Ein vorsätzliches Dazwischentreten Dritter führt jedenfalls dann nicht zwingend zu einer Unterbrechung der Zurechnung des Mehraufwandes, wenn die Veranstaltung in Kenntnis ihrer Gefahrträchtigkeit durchgeführt wird.

bb) Die Bremer Veranstaltungsgebühr beeinträchtigt die Berufsfreiheit der Veranstalterinnen und Veranstalter auch in einer Gesamtschau nicht unangemessen. Grundsätzlich steht das Ziel der Gebühr, nicht die Allgemeinheit mit dem der Polizei entstandenen Mehraufwand bei Hochrisikoveranstaltungen zu belasten, sondern deren Veranstalterinnen und Veranstalter, die den Mehraufwand veranlassen und mit der Veranstaltung einen Gewinn erzielen wollen, nicht außer Verhältnis zu der aus der Gebührenpflicht folgenden Beeinträchtigung beruflicher Freiheit. Insbesondere ist eine unangemessene Belastung oder eine erdrosselnde Wirkung durch § 4 Abs. 4 BremGebBeitrG nicht erkennbar. Bezogen auf die finanzielle Belastungswirkung ist auch zu berücksichtigen, dass § 4 Abs. 4 BremGebBeitrG nur einen kleinen Teil von kommerziellen Veranstaltungen betrifft.

d) § 4 Abs. 4 BremGebBeitrG genügt zudem dem Gebot der Bestimmtheit und Normenklarheit. Die in der Verfassungsbeschwerde bezeichneten Merkmale auf Tatbestands- und Rechtsfolgenseite werfen keine Auslegungsprobleme auf, die nicht mit herkömmlichen juristischen Methoden bewältigt werden können. Auch der Umstand, dass die Gebührenhöhe von den Veranstalterinnen und Veranstaltern selbst im Voraus nicht genau berechnet werden konnte, ändert hieran nichts. Das Bestimmtheitsgebot verlangt nicht, dass sich aus den Regelungen zur Bemessung der Gebühr vorab deren exakte Höhe ermitteln lässt.

II. § 4 Abs. 4 BremGebBeitrG ist auch mit dem allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar.

Indem die Norm die Gebührenlast für die Bereitstellung zusätzlicher Polizeikräfte nicht allen Veranstalterinnen und Veranstaltern, sondern nur denjenigen auferlegt, die die in § 4 Abs. 4 BremGebBeitrG genannten Kriterien erfüllen, differenziert die Norm zwischen verschiedenen Gruppen.

Wegen des vorliegenden Eingriffsgewichts in die Berufsfreiheit nach Art. 12 Abs. 1 GG ist für die hier relevanten Ungleichbehandlungen nicht nur ein sachlicher Grund erforderlich, vielmehr muss das Verhältnis des durch die Ungleichbehandlung beabsichtigten Gemeinwohlgewinns angemessen zu der damit verbundenen Ungleichheit sein. Dies ist der Fall.

1. Die Differenzierungen dienen gerade dazu, den mit dem Eingriff verfolgten Zweck zu realisieren. Der Aufwand soll dorthin verlagert werden, wo die Gewinne hinfließen und wo sie typischerweise auch vorhanden sind. Indem an die Gewinnorientierung angeknüpft wird, wird die Belastung gerade auf den Bereich verlagert, in dem die Schuldnerinnen und Schuldner einen Vorteil erzielen. Der Unterschied im daraus erwachsenden Vorteil zwischen gewinnorientierten, einen monetären Vorteil ziehenden Veranstaltungen und nicht gewinnorientierten Veranstaltungen ist so groß, dass er die Nichteinbeziehung der nicht gewinnorientierten Veranstaltungen rechtfertigt.

2. Die Beschränkung auf Veranstaltungen mit voraussichtlich mehr als 5.000 zeitgleich teilnehmenden Personen verfolgt das Ziel, nur diejenigen Veranstaltungen zu erfassen, die einen deutlichen polizeilichen Mehraufwand hervorrufen. Das Merkmal verfolgt daher partiell das gleiche Ziel wie das der besonderen Gefahrträchtigkeit. Es soll nur die Veranstaltung, die eine administrativ und finanziell erhebliche Sondernutzung der Gefahrenvorsorge bewirkt, erfasst werden. Darüber hinaus unterstützt die Konzentration auf die Größe der Veranstaltung auch das gleiche Ziel wie das Kriterium der Gewinnorientierung. Es ist anzunehmen, dass eine Veranstaltung umso gewinnbringender ist, je größer sie ist. Die Differenzierung soll gerade das Ziel des Eingriffs ermöglichen und steht nicht außer Verhältnis zur bewirkten Belastung.

Quelle: Pressemitteilung 2/25 des Bundesverfassungsgerichtes vom 14. Januar 2025

Abmahnung eines Mitglieds der ver.di-Betriebsgruppe der Freien Universität rechtmäßig

9. Januar 2025

Das Arbeitsgericht Berlin hat die Abmahnung gegenüber einem Mitglied der ver.di-Betriebsgruppe bei der Freien Universität Berlin wegen deren Aufrufs im Internet für rechtmäßig angesehen. In dem Aufruf wird der Universität vorgeworfen, sich tarifwidrig, mitbestimmungsfeindlich und antidemokratisch zu verhalten und dadurch den Rechtsruck und den Aufstieg der AfD zu befördern.

Das klagende Vorstandsmitglied der ver.di-Betriebsgruppe steht in einem Arbeitsverhältnis zur beklagten Universität und ist freigestelltes Personalratsmitglied. Der Vorstand der Betriebsgruppe veröffentlichte Ende Januar 2024 auf deren Internetpräsenz einen Aufruf zur Teilnahme an einem Aktionstag unter anderem gegen die AfD. In dem Aufruf heißt es über die beklagte Universität, sie halte Tarifverträge nicht ein, gliedere Tätigkeiten unterer Lohngruppen mit einem hohen Anteil migrantischer Beschäftigter aus, bekämpfe Mitbestimmung und demokratische Prozesse, und gewerkschaftliche Organisierung sei ihr ein Dorn im Auge. Damit fördere die Universität den Rechtsruck und den Aufstieg der AfD.

Die Arbeitgeberin erteilte dem Arbeitnehmer Anfang März 2024 eine Abmahnung und führte in dieser aus, in den zitierten Passagen liege eine ehrverletzende Kritik, die eine Verletzung der Treue- und Loyalitätspflicht im Arbeitsverhältnis darstelle.

Das Arbeitsgericht hat die Klage auf Entfernung der Abmahnung abgewiesen. Es bestehe ein hinreichender Bezug des Aufrufs zum Arbeitsverhältnis der Parteien. Seine Nebenpflicht zur Rücksichtnahme im Arbeitsverhältnis habe der Arbeitnehmer durch den Aufruf verletzt. Zwar sei wegen der enthaltenen wertenden Elemente von einer Meinungsäußerung auszugehen. Diese überschreite jedoch nach Anlass, Kontext und Zweck die Grenze auch polemischer oder überspitzter Kritik. Es handele sich vielmehr um eine vom Schutz der Meinungsfreiheit aus Artikel 5 Absatz 1 Grundgesetz nicht gedeckte Schmähkritik. Für die erhobenen Vorwürfe fehlten Anhaltspunkte in der Realität. So sei etwa die Fremdvergabe von Reinigungsarbeiten im Öffentlichen Dienst üblich.

Das Arbeitsgericht hat weiter angenommen, die Äußerungen seien auch nicht aufgrund der in Artikel 9 Absatz 3 Grundgesetz gewährleisteten Koalitionsfreiheit gerechtfertigt. Die Werbung zur Teilnahme an dem Aktionstag sei ebenso wenig Gegenstand des abgemahnten Verhaltens wie die Äußerungen in Bezug auf die Bundesregierung. Allein die Schmähkritik bezogen auf die Universität werde abgemahnt; sie sei auch vom Schutzbereich des Artikel 9 Absatz 3 Grundgesetz nicht erfasst.

Gegen das Urteil kann der klagende Arbeitnehmer Berufung beim Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg einlegen.

Arbeitsgericht Berlin, Urteil vom 5. Dezember 2024, Aktenzeichen 58 Ca 4568/24

Quelle: Pressemitteilung Arbeitsgericht Berlin Nr. 01/25 vom 06.01.2025

Diskriminierung von Teilzeitbeschäftigten bei Überstundenzuschlägen

6. Dezember 2024

Eine tarifvertragliche Regelung, die unabhängig von der individuellen Arbeitszeit für Überstundenzuschläge das Überschreiten der regelmäßigen Arbeitszeit eines Vollzeitbeschäftigten voraussetzt, behandelt teilzeitbeschäftigte Arbeitnehmer wegen der Teilzeit schlechter als vergleichbare Vollzeitbeschäftigte. Sie verstößt gegen das Verbot der Diskriminierung Teilzeitbeschäftigter (§ 4 Abs. 1 TzBfG), wenn die in ihr liegende Ungleichbehandlung nicht durch sachliche Gründe gerechtfertigt ist. Fehlen solche sachlichen Gründe, liegt regelmäßig zugleich eine gegen Vorschriften des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (§ 7 Abs. 1 AGG) verstoßende mittelbare Benachteiligung wegen des (weiblichen) Geschlechts vor, wenn innerhalb der betroffenen Gruppe der Teilzeitbeschäftigten erheblich mehr Frauen als Männer vertreten sind.

Der Beklagte ist ein ambulanter Dialyseanbieter mit mehr als 5.000 Arbeitnehmern. Die Klägerin ist bei ihm als Pflegekraft in Teilzeit im Umfang von 40 vH eines Vollzeitbeschäftigten tätig. Auf das Arbeitsverhältnis findet aufgrund arbeitsvertraglicher Bezugnahme der zwischen dem Beklagten und der Gewerkschaft ver.di geschlossene Manteltarifvertrag (MTV) Anwendung. Nach § 10 Ziff. 7 Satz 2 MTV sind mit einem Zuschlag von 30 vH zuschlagspflichtig Überstunden, die über die monatliche Arbeitszeit eines vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmers hinaus geleistet werden und im jeweiligen Kalendermonat nicht durch Freizeitgewährung ausgeglichen werden können. Alternativ zu einer Auszahlung des Zuschlags ist eine entsprechende Zeitgutschrift im Arbeitszeitkonto vorgesehen. Das Arbeitszeitkonto der Klägerin wies Ende März 2018 ein Arbeitszeitguthaben von 129 Stunden und 24 Minuten aus. Der Beklagte hat der Klägerin für diese Zeiten in Anwendung von § 10 Ziff. 7 Satz 2 MTV weder Überstundenzuschläge gezahlt, noch im Arbeitszeitkonto eine Zeitgutschrift vorgenommen.

Mit ihrer Klage hat die Klägerin verlangt, ihrem Arbeitszeitkonto als Überstundenzuschläge weitere 38 Stunden und 39 Minuten gutzuschreiben und die Zahlung einer Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG in Höhe eines Vierteljahresverdienstes begehrt. Die Anwendung von § 10 Ziff. 7 Satz 2 MTV benachteilige sie wegen ihrer Teilzeit unzulässig gegenüber vergleichbaren Vollzeitbeschäftigten. Zugleich werde sie wegen ihres Geschlechts mittelbar benachteiligt, denn der Beklagte beschäftige überwiegend Frauen in Teilzeit.

Das Arbeitsgericht hat die Klage insgesamt abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat der Klägerin die verlangte Zeitgutschrift zuerkannt und hinsichtlich der begehrten Entschädigung die Klageabweisung bestätigt. Mit Beschluss vom 28. Oktober 2021 (- 8 AZR 370/20 (A) – BAGE 176, 117) hatte der Senat das Revisionsverfahren ausgesetzt und den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) um die Beantwortung von Rechtsfragen betreffend die Auslegung des Unionsrechts ersucht. Dies hat der EuGH mit Urteil vom 29. Juli 2024 (- C-184/22 und C-185/22 [KfH Kuratorium für Dialyse und Nierentransplantation eV]) getan.

Die Revision der Klägerin hatte vor dem Achten Senat des Bundesarbeitsgerichts teilweise Erfolg. Der Senat hat der Klägerin die verlangte Zeitgutschrift – in Übereinstimmung mit dem Landesarbeitsgericht – zugesprochen und ihr darüber hinaus eine Entschädigung iHv. 250,00 Euro zuerkannt. Auf der Grundlage der Vorgaben des EuGH hatte der Senat davon auszugehen, dass § 10 Ziff. 7 Satz 2 MTV insoweit wegen Verstoßes gegen das Verbot der Benachteiligung von Teilzeitbeschäftigten unwirksam ist, als er bei Teilzeitbeschäftigung keine der Teilzeitquote entsprechende anteilige Absenkung der Grenze für die Gewährung eines Überstundenzuschlags vorsieht. Einen sachlichen Grund für diese Ungleichbehandlung konnte der Senat nicht erkennen. Die sich aus dem Verstoß gegen § 4 Abs. 1 TzBfG ergebende Unwirksamkeit der tarifvertraglichen Überstundenzuschlagsregelung führt zu einem Anspruch der Klägerin auf die eingeklagte weitere Zeitgutschrift. Daneben war ihr eine Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG zuzuerkennen. Durch die Anwendung der tarifvertraglichen Regelung hat die Klägerin auch eine mittelbare Benachteiligung wegen des Geschlechts erfahren. In der Gruppe der beim Beklagten in Teilzeit Beschäftigten, die dem persönlichen Anwendungsbereich des MTV unterfallen, sind zu mehr als 90 vH Frauen vertreten. Als Entschädigung war ein Betrag iHv. 250,00 Euro festzusetzen. Dieser ist erforderlich, aber auch ausreichend, um einerseits den der Klägerin durch die mittelbare Geschlechtsbenachteiligung entstandenen immateriellen Schaden auszugleichen und andererseits gegenüber dem Beklagten die gebotene abschreckende Wirkung zu entfalten.

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 5. Dezember 2024 – 8 AZR 370/20
Vorinstanz: Hessisches Landesarbeitsgericht, Urteil vom 19. Dezember 2019 – 5 Sa 436/19

Hinweis: Der Achte Senat hat am heutigen Tag auch die weitgehend parallel gelagerte Rechtssache – 8 AZR 372/20 – entschieden und der dortigen Klägerin ebenfalls die verlangte Zeitgutschrift und eine Entschädigung iHv. 250,00 Euro zugesprochen.

Quelle: Pressemitteilung 34/24 des Bundesasrbeitsgerichtes vom 05.12.2024

Bundesgerichtshof zur Haftung des Betreibers einer Waschanlage

21. November 2024

Urteil vom 21. November 2024 – VII ZR 39/24

Der unter anderem für das Werkvertragsrecht zuständige VII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat über die Haftung des Betreibers einer Autowaschanlage für einen Fahrzeugschaden entschieden.

Sachverhalt und bisheriger Prozessverlauf

Der Kläger verlangt Schadensersatz wegen der Beschädigung seines Fahrzeugs in einer von der Beklagten betriebenen Autowaschanlage, einer sogenannten Portalwaschanlage.

In der Waschanlage befindet sich ein Hinweisschild, das auszugsweise wie folgt lautet:

“Allgemeine Geschäftsbedingungen Autowaschanlagen/Portalwaschanlagen

Die Reinigung der Fahrzeuge in der Waschanlage erfolgt unter Zugrundelegung der nachfolgenden Bedingungen: (…).

Die Haftung des Anlagenbetreibers entfällt insbesondere dann, wenn ein Schaden durch nicht ordnungsgemäß befestigte Fahrzeugteile oder durch nicht zur Serienausstattung des Fahrzeugs gehörende Fahrzeugteile (z.B. Spoiler, Antenne, Zierleisten o.ä.) sowie dadurch verursachte Lackkratzer verursacht worden ist, außer den Waschanlagenbetreiber oder sein Personal trifft grobe Fahrlässigkeit oder Vorsatz.”

Unter diesem Hinweisschild befindet sich ein Zettel mit der Aufschrift:

“Achtung Keine Haftung für Anbauteile und Heckspoiler!”.

Der Kläger fuhr Ende Juli 2021 mit seinem Pkw der Marke Land Rover in die Waschanlage ein, stellte das Fahrzeug ordnungsgemäß ab, verließ die Waschhalle und startete den Waschvorgang. Während des Waschvorgangs wurde der zur serienmäßigen Fahrzeugausstattung gehörende, an der hinteren Dachkante angebrachte Heckspoiler abgerissen, wodurch das Fahrzeug beschädigt wurde. Deswegen verlangt der Kläger von der Beklagten Schadensersatz in Höhe von insgesamt 3.219,31 €, eine Nutzungsausfallentschädigung (119 €) für den Tag der Fahrzeugreparatur sowie die Freistellung von Rechtsanwaltskosten.

Das Amtsgericht hat die Beklagte antragsgemäß verurteilt. Auf die Berufung der Beklagten hat das Landgericht die Klage abgewiesen.

Entscheidung des Bundesgerichtshofs:

Die Revision des Klägers war erfolgreich. Sie führte zur Wiederherstellung des amtsgerichtlichen Urteils.

Dem Kläger steht wegen der Beschädigung seines Fahrzeugs gegen die Beklagte ein vertraglicher Schadensersatzanspruch in der geltend gemachten Höhe zu. Der Vertrag über die Reinigung eines Fahrzeugs umfasst als Nebenpflicht die Schutzpflicht des Waschanlagenbetreibers, das Fahrzeug des Kunden vor Beschädigungen beim Waschvorgang zu bewahren. Geschuldet sind diejenigen Maßnahmen, die ein umsichtiger und verständiger, in vernünftigen Grenzen vorsichtiger Anlagenbetreiber für notwendig und ausreichend halten darf, um andere vor Schäden zu bewahren. Hierbei trägt grundsätzlich der Gläubiger die Beweislast dafür, dass der Schuldner eine ihm obliegende Pflicht verletzt und diese Pflichtverletzung den Schaden verursacht hat. Abweichend davon hat sich allerdings der Schädiger nicht nur hinsichtlich seines Verschuldens zu entlasten, sondern muss er auch darlegen und gegebenenfalls beweisen, dass ihn keine Pflichtverletzung trifft, wenn die für den Schaden in Betracht kommenden Ursachen allein in seinem Obhuts- und Gefahrenbereich liegen.

Ein solcher Fall ist hier gegeben. Die Ursache für die Beschädigung des klägerischen Fahrzeugs liegt allein im Obhuts- und Gefahrenbereich der Beklagten. Nach den außer Streit stehenden Feststellungen des Berufungsgerichts kam es zu der Beschädigung, weil die Waschanlage konstruktionsbedingt nicht für das serienmäßig mit einem Heckspoiler ausgestattete Fahrzeug des Klägers geeignet war. Das Risiko, dass eine Autowaschanlage für ein marktgängiges Fahrzeug wie dasjenige des Klägers mit einer serienmäßigen Ausstattung wie dem betroffenen Heckspoiler konstruktionsbedingt nicht geeignet ist, fällt in den Obhuts- und Gefahrenbereich des Anlagenbetreibers.

Daneben kommt keine aus dem Obhuts- und Gefahrenbereich des Klägers stammende Ursache für den Schaden in Betracht. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts war das Fahrzeug des Klägers vor dem Einfahren in die Waschanlage unbeschädigt und der serienmäßige Heckspoiler ordnungsgemäß angebracht sowie fest mit dem Fahrzeug verbunden. Der Kläger, dem mit seinem marktgängigen, serienmäßig ausgestatteten und in ordnungsgemäßem Zustand befindlichen Fahrzeug von der Beklagten als Betreiberin die Nutzung der Waschanlage eröffnet wurde, konnte berechtigt darauf vertrauen, dass sein Fahrzeug so, wie es ist, also mitsamt den serienmäßig außen angebrachten Teilen, unbeschädigt aus dem Waschvorgang hervorgehen werde. Dieses Vertrauen war insbesondere unter dem Gesichtspunkt der Risikobeherrschung gerechtfertigt, weil nur der Anlagenbetreiber Schadensprävention betreiben kann, wohingegen der Kunde regelmäßig sein Fahrzeug der Obhut des Betreibers überantwortet, ohne die weiteren Vorgänge selbst beeinflussen zu können. Anders als der Betreiber, der es in der Hand hat, bestimmte Fahrzeugmodelle, die er für schadensanfällig hält, von der Benutzung seiner Anlage auszuschließen und dadurch das Risiko einer Beschädigung zu verringern, ist es dem Kunden regelmäßig nicht möglich, solche Waschanlagen von vornherein zu identifizieren und zu meiden, die konstruktionsbedingt nicht geeignet sind, sein Fahrzeug ohne ein erhöhtes Schadensrisiko zu reinigen.

Die hiernach gegen sie streitende Vermutung der Pflichtverletzung hat die Beklagte nicht widerlegt und den ihr obliegenden Nachweis fehlenden Verschuldens nicht geführt. Ihr Vortrag, die Gefahr der Schädigung des serienmäßig angebrachten Heckspoilers sei ihr nicht bekannt gewesen, weil sich ein solcher Vorfall bislang in der Waschanlage nicht ereignet habe, sie habe diese Gefahr auch nicht kennen müssen und hierfür keine konkreten Anhaltspunkte gehabt, eine hypothetische Erkundigung hätte zudem an dem konkreten Schadensereignis nichts geändert, genügt zu ihrer Entlastung nicht. Es fehlt schon an der Darlegung, ob die Beklagte – die sich ausweislich der in der Waschanlage angebrachten Schilder der Gefahr einer Beschädigung insbesondere von Heckspoilern grundsätzlich bewusst war – sich darüber informiert hat, für welche Fahrzeuge ihre Anlage konstruktionsbedingt ungeeignet ist und daher ein erhöhtes Schadensrisiko besteht. Ebenso wenig ist dargetan, dass sie keine Informationen bekommen hätte, auf deren Grundlage die Beschädigung des klägerischen Fahrzeugs vermieden worden wäre.

Die Beklagte hat sich ferner nicht durch einen ausreichenden Hinweis auf die mit dem Waschvorgang verbundenen Gefahren entlastet. Das in der Waschanlage angebrachte, mit “Allgemeine Geschäftsbedingungen Autowaschanlagen/Portalwaschanlagen” überschriebene Schild reicht als Hinweis schon deshalb nicht aus, weil es ausdrücklich nur “nicht ordnungsgemäß befestigte Fahrzeugteile oder (…) nicht zur Serienausstattung des Fahrzeugs gehörende Fahrzeugteile (z.B. Spoiler…)” erwähnt. Nicht nur fällt der Heckspoiler des klägerischen Fahrzeugs nicht hierunter, weil er zur Serienausstattung gehört und ordnungsgemäß befestigt war, sondern die ausdrückliche Beschränkung auf nicht serienmäßige Fahrzeugteile ist sogar geeignet, bei dem Nutzer das Vertrauen zu begründen, mit einem serienmäßig ausgestatteten Pkw die Anlage gefahrlos benutzen zu können. Ebenso wenig stellt der darunter befindliche Zettel mit der Aufschrift “Keine Haftung für Anbauteile und Heckspoiler!” einen ausreichenden Hinweis dar. Angesichts des darüber befindlichen Schildes mit der ausdrücklichen Beschränkung auf nicht zur Serienausstattung gehörende Teile wird für den Waschanlagennutzer schon nicht hinreichend klar, dass – gegebenenfalls – von diesem Hinweis auch die Nutzung der Waschanlage durch Fahrzeuge mit serienmäßigem Heckspoiler erfasst sein soll.

Vorinstanzen:

AG Ibbenbüren – Urteil vom 20. Dezember 2022 – 3 C 268/21
LG Münster – Urteil vom 14. Februar 2024 – 1 S 4/23

Karlsruhe, den 21. November 2024

Quelle: Pressemitteilung Nr. 224/2024 des Bundesgerichtshofes vom 21.11.2024

Wann wird die eRechnung zur Pflicht für die Anwaltschaft?

19. November 2024

Nachstehend erfolgt die Wiedergabe eines Beitrages der Rechtsanwaltskammer Berlin im Kammerton 05/2024
Quelle: Kammerton Ausgabe 5/2024

Das Wachstumschancengesetz tritt am 01.01.2025 in Kraft. Nach mehreren Änderungen im Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens hat der Bundesrat dem Gesetz in der vom Vermittlungsausschuss gefundenen Fassung am 22.03.2024 zugestimmt. Teil der Neuregelungen ist die Einführung der verpflichtenden elektronischen Rechnung in Deutschland.

Fragen an Vorstandsmitglied Sabine Krause über die Auswirkungen auf die Anwaltschaft.

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Rechtsanwältin Sabine Krause

Frau Krause, das Wachstumschancengesetz ist verabschiedet worden und wird am 01.01.2025 in Kraft treten. In welcher Form muss die Anwaltschaft dann ihre Rechnungen erstellen?

Ab Januar 2025 werden elektronische Rechnungen an unternehmerische Mandanten mit Sitz in Deutschland zum Standard. Es ist aber unter bestimmten Voraussetzungen und für eine Übergangszeit bis längstens 2028 weiterhin zulässig, Papier- und PDF-Rechnungen zu erstellen und zu versenden.

Was ist nach § 14 Abs.1 S.3 UStG n.F. unter einer elektronischen Rechnung zu verstehen?

Eine „elektronische Rechnung“ ist nach der neuen Definition in § 14 Abs. 1 Satz 3 UStG n.F. eine Rechnung, die in einem strukturierten elektronischen Format ausgestellt, übermittelt und empfangen wird und eine elektronische Verarbeitung ermöglicht. Das strukturierte elektronische Format muss der europäischen CEN-Norm EN16931 gemäß der Richtlinie 2014/55/EU vom 16. April 2014 über die elektronische Rechnungsstellung bei öffentlichen Aufträgen entsprechen. Erlaubt sind auch alternative Datenformate, die zwischen Rechnungsaussteller und Rechnungsempfänger vereinbart werden können, soweit sie interoperabel mit der EN16931 bezogen auf die Rechnungspflichtbestandteile sind.

Diese Vorgaben werden durch die XRechnungen erfüllt, die im öffentlichen Sektor bereits seit 2020 etabliert sind. Das Bundesfinanzministerium hat in einem Schreiben ausgeführt, dass auch sog. hybride ZUGFeRD-Rechnungen als gesetzeskonform anerkannt werden. Diese beinhalten sowohl eine XML-Datei für die automatisierte Weiterverarbeitung als auch zusätzlich eine lesbare PDF-Ansicht der Rechnung. Die Vorgaben für die elektronische Rechnungslegung sind somit bewusst technologieoffen und hybride Formate wie ZUGFeRD werden helfen, uns den Übergang in die Digitalisierung der Rechnungsprozesse zu erleichtern.

Die Übertragungswege für die elektronischen Rechnungen ab 2025 sind nicht gesetzlich definiert, d.h. es reicht eine Übermittlung per E-Mail.
Unstrukturierte PDF-Formate, die aktuell noch als elektronische Rechnungen gelten, werden ab 2025 nicht mehr als elektronische Rechnungen anerkannt. Sie unterfallen dann den neuen Regelungen für sog. sonstige Rechnungen und sind ab 2028 nicht mehr zulässig, wenn eine gesetzliche eRechnungspflicht besteht.

In welchen Fällen sind 2025 noch Papierrechnungen und PDF-Rechnungen erlaubt?

Der postalische Versand von Papierrechnungen und der E-Mail-Versand von eingescannten PDF-Rechnungen darf bis Ende 2026 weiterhin erfolgen. Die gesetzliche Übergangsregelung sieht vor, dass es wie bisher auch für Papierrechnungen nicht der Zustimmung des Rechnungsempfängers bedarf. Für PDF-Rechnungen muss die rechnungsausstellende Kanzlei aber unverändert die Zustimmung des Rechnungsempfängers einholen. Kanzleien mit einem Vorjahresumsatz bis 800.000 EUR dürfen Papierrechnungen und PDF-Rechnungen (mit Zustimmung) sogar noch bis Ende 2027 ausstellen. Ab 2028 wird dann aber für alle Kanzleien die elektronische Rechnungslegung verpflichtend. Dann sind auch Papier- und PDF-Rechnungen nicht mehr zulässig.

Bestehen auch dann noch Ausnahmen von der Verpflichtung zur eRechnung?

Von der eRechnungspflicht sind auch über den 31.12.2027 hinaus Kleinbetragsrechnungen bis 250 EUR brutto und Rechnungen an Nichtunternehmer (B2C) ausgenommen. Die eRechnungspflicht gilt zudem generell nur im nationalen Bereich, d.h. nicht gegenüber Mandanten, die ihren Sitz außerhalb Deutschlands haben. In diesen Fällen bleiben Papierrechnungen der Standard, wobei PDF-Rechnungen und elektronische Rechnungen im neuen strukturierten Format wie bisher nur mit Zustimmung des Empfängers erteilt werden dürfen.

Worauf muss sich die Anwaltschaft ab 2025 im Hinblick auf den Empfang von Rechnungen einstellen?

Für den Versand der elektronischen Rechnung sieht der Gesetzgeber mehrjährige Übergangsfristen bis Ende 2027 vor, auf den Empfang von elektronischen Rechnungen müssen allerdings schon ab dem 01.01.2025 alle Kanzleien vorbereitet sein. Das betrifft alle strukturierten eRechnungsformate nach EN16931. Denn solche Rechnungen können von da an von allen Unternehmen versendet werden, ohne dass hierfür die Zustimmung des Rechnungsempfängers erforderlich sein wird. Hierin besteht wegen der kurzen Umsetzungsfrist wohl die größte Herausforderung für die Anwaltschaft.

Es sollte in der Kanzleiorganisation mindestens eine E-Mail-Adresse zum Empfang von eRechnungen vorgehalten werden. Empfehlenswert ist, rechtzeitig ein zentrales Rechnungseingangs-E-Mail-Postfach und das „Wunschformat“ an Lieferanten und Dienstleister zu kommunizieren. Die Visualisierung als PDF bzw. die elektronische Verarbeitung kann dann im Anschluss erfolgen. Es ist davon auszugehen, dass die gängigen Kanzleisoftwareanbieter bis Jahresende entsprechende IT-Tools zur Verfügung stellen, mit denen die eRechnungsformate umgewandelt und verarbeitet und auch erstellt werden können.
Wichtig ist noch, dass die eingehenden eRechnungen revisionssicher und elektronisch archiviert werden müssen.

Während des Gesetzgebungsverfahren hat es Kritik an der verpflichtenden Einführung der elektronischen Rechnung für die Anwaltschaft gegeben, weil
• die Angabe des Leistungsempfängers gegen die anwaltliche Verschwiegenheitspflicht verstoße
• dies der in § 10 Abs.1 S.1 RVG-E geplanten Vereinfachung, durch die Rechnungen nur noch in Textform erstellt werden müssen, widerspreche und
• damit ein erheblicher Aufwand für die Anwaltschaft befürchtet wird.

Wurde dies vom Vermittlungsausschuss / im Gesetzgebungsverfahren berücksichtigt?

Die Angabe des Leistungsempfängers und konkrete Angaben zur Leistung gehören meines Erachtens bereits nach aktuell geltendem Recht zu den Pflichtinhalten einer Rechnung nach § 14 Abs. 4 UStG, in der über eine Beratung oder sonstige anwaltliche Dienstleistung an einen anderen Unternehmer für dessen Unternehmen oder an eine juristische Person abgerechnet wird. Dies wird sich durch Einführung der eRechnungspflicht ab 01.01.2025 nicht ändern. Nur dann, wenn die Rechnung des Rechtsanwalts oder der Rechtsanwältin diese gesetzlichen Mindestangaben enthält, ist der Rechnungsempfänger zum Vorsteuerabzug berechtigt. Die Anwaltschaft muss den durch die Rechnungspflichtinhalte nach § 14 Abs. 4 UStG bestehenden steuerrechtlichen Anforderungen und den durch die anwaltliche Verschwiegenheitspflicht nach § 43a Abs. 2 BRAO bestehenden berufsrechtlichen Anforderungen schon heute gleichzeitig begegnen, indem sie diejenigen Angaben in die Rechnung aufnimmt, die für die Identifizierung der Leistung unbedingt notwendig sind, sich dabei aber weitestgehend auf generische Formulierungen und ein inhaltliches Minimum beschränken. Da die eRechnungen mit der geplanten Einführung eines elektronischen Mehrwertsteuermeldesystems („Digital Reporting“) voraussichtlich ab 2030 nicht nur zwischen Rechtsanwalt und Mandanten ausgetauscht werden, sondern dann auch den Finanzbehörden ein unmittelbarer Zugriff auf die Rechnungen ermöglicht werden soll, ist es empfehlenswert, vorsorglich bereits im Rahmen der Mandatsvereinbarung eine Einwilligung des Mandanten nach § 2 Abs. 4a BORA (Entbindung von der Verschwiegenheitspflicht für die elektronische Rechnungslegung) einzuholen.

Nicht alle Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte verfügen über ein Zertifikat für eine qualifizierte elektronische Signatur. Ein Kritikpunkt während des Gesetzgebungsverfahrens war daher auch die Befürchtung, dass die eRechnung auch zukünftig zwingend mit einer qualifizierten elektronischen Signatur gesichert werden müsste und zwar auch dann, wenn das Schriftformerfordernis des § 10 RVG entfällt. Festzustellen ist, dass auch nach § 14 Abs. 3 UStG n.F. bei Übermittlung einer eRechnung Verfahren angewendet werden müssen, die die Herkunft und Echtheit der Daten garantieren. Anderenfalls dürften die Rechnungen durch den Rechnungsempfänger nicht zum Vorsteuerabzug verwendet werden. Beruhigend ist jedoch, dass auch mit der Einführung der eRechnungspflicht eine qualifizierte elektronische Signatur des rechnungsausstellenden Anwalts nicht zwingend vorgeschrieben ist. Denn wie bisher wird für die Herkunfts- und Echtheitskontrolle auch ein funktionierendes innerbetriebliches Kontrollverfahren (IKS) beim Rechnungsempfänger ausreichen. Der neue § 14 Abs. 3 UStG ist insofern mit den bisher geltenden Regelungen in § 14 Abs. 1 Satz 2-6 und Abs. 3 UStG wortgleich. Der Gesetzgeber schreibt weiterhin kein technisches Verfahren vor, das Rechnungsaussteller und -empfänger verwenden müssen, um die korrekte Übermittlung ohne Verfälschung der Rechnung zu garantieren. Wie bisher können auch ab 2025 im Rahmen des IKS beim Rechnungsempfänger manuelle Prüfschritte genutzt werden, z.B. ein zuverlässiger Abgleich der Rechnung mit den geschäftlichen Unterlagen (s. a. Abschn. 14.4 UStAE zu § 14 UStG).

Es ist absehbar, dass die deutsche Anwaltschaft wie alle deutschen Wirtschaftsbeteiligten im B2B-Geschäft für die Digitalisierung der Rechnungseingangs- und -ausgangsprozesse zusätzliche Aufwendungen kalkulieren muss. Der Gesetzgeber ist der Kritik der Verbände mit leicht verlängerten Umsetzungsfristen begegnet, hat aber klargestellt, dass an der elektronischen Rechnungslegung kein Weg vorbeiführt. Das Bundesfinanzministerium hat unterstützend angekündigt, ein kostenloses Angebot zur Erstellung und zur Visualisierung elektronischer Rechnungen zu entwickeln. Dies würde Kanzleien, die keine eRechnungsfähige Software einsetzen, zumindest entlasten können.

Hinweis: Diese Ausführungen ersetzen keine individuelle steuerrechtliche Beratung.

Tarifvertragliche Inflationsausgleichsprämie – Ausschluss von Arbeitnehmern in der Passivphase ihrer Altersteilzeit

13. November 2024

Der im Tarifvertrag für energie- und wasserwirtschaftliche Unternehmungen geregelte Ausschluss von Arbeitnehmern, die sich in der Passivphase ihrer Altersteilzeit befinden, vom Bezug einer Inflationsausgleichsprämie ist unwirksam.

Der Kläger ist Arbeitnehmer eines Unternehmens der Energiewirtschaft. Er vereinbarte mit der Rechtsvorgängerin der Beklagten Altersteilzeit im Blockmodell mit Beginn der Passivphase am 1. Mai 2022.

Der Arbeitgeberverband energie- und wasserwirtschaftlicher Unternehmungen e.V. einigte sich mit den Gewerkschaften ver.di und IG BCE anlässlich der Tarifrunde 2023 in dem „Tarifvertrag über eine einmalige Sonderzahlung gemäß § 3 Nr. 11c Einkommenssteuergesetz“ (TV IAP) auf die Gewährung einer Inflationsausgleichsprämie, die unabhängig vom individuellen Beschäftigungsgrad 3.000,00 Euro beträgt. Es handelt sich nach der Protokollnotiz zum TV IAP um eine Beihilfe bzw. Unterstützung des Arbeitgebers zur Abmilderung der gestiegenen Verbraucherpreise. Von der Zahlung sind gemäß § 1 Abs. 2 Satz 3 TV IAP ua. Arbeitnehmer ausgeschlossen, die sich am 31. Mai 2023 in der Passivphase der Altersteilzeit oder im Vorruhestand befanden.

Mit seiner Klage begehrt der Kläger die Inflationsausgleichsprämie iHv. 3.000,00 Euro. Er hat ua. die Auffassung vertreten, der Anspruchsausschluss von Arbeitnehmern in der Passivphase der Altersteilzeit stelle eine nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung wegen der Teilzeit dar. Die Inflationsausgleichsprämie werde ausschließlich als Leistung zur Abmilderung der gestiegenen Verbraucherpreise gezahlt und verfolge daneben keinen arbeitsleistungsbezogenen Zweck.

Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Die Revision des Klägers hatte vor dem Neunten Senats des Bundesarbeitsgerichts Erfolg. Die Beklagte ist zur Zahlung der streitgegenständlichen Prämie verpflichtet.

Der Ausschluss von Arbeitnehmern in der Passivphase der Altersteilzeit durch § 1 Abs. 2 Satz 3 TV IAP verstößt gegen § 4 Abs. 1 TzBfG. Danach darf ein teilzeitbeschäftigter Arbeitnehmer wegen der Teilzeitarbeit nicht schlechter behandelt werden als ein vergleichbarer vollzeitbeschäftigter Arbeitnehmer, es sei denn, dass sachliche Gründe eine unterschiedliche Behandlung rechtfertigen. Einem teilzeitbeschäftigten Arbeitnehmer ist Arbeitsentgelt oder eine andere teilbare geldwerte Leistung mindestens in dem Umfang zu gewähren, der dem Anteil seiner Arbeitszeit an der Arbeitszeit eines vergleichbaren vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmers entspricht.

Eine Schlechterstellung von Teilzeitbeschäftigten kann sachlich gerechtfertigt sein, wenn sich ihr Grund aus dem Verhältnis von Leistungszweck und Umfang der Teilzeitarbeit herleiten lässt. In der Bestimmung des Leistungszwecks sind die Tarifvertragsparteien dabei gemäß Art. 9 Abs. 3 GG weitgehend frei. Mit der Regelung des § 1 Abs. 2 Satz 3 TV IAP haben sie ihre durch § 4 Abs. 1 TzBfG begrenzte Rechtsetzungsbefugnis überschritten. Ein sachlicher Grund für die Ungleichbehandlung von Arbeitnehmern aufgrund der Freistellung in der Altersteilzeit gegenüber vergleichbaren Vollzeitbeschäftigten lässt sich aus den erkennbaren Leistungszwecken und dem Umfang der Teilzeitarbeit nicht herleiten. Die Ausgestaltung der Anspruchsvoraussetzungen steht der Annahme entgegen, dass es sich bei der Inflationsausgleichsprämie auch um eine Gegenleistung für erbrachte Arbeit handelt. Auch in Bezug auf die vergangene Betriebstreue sind keine Aspekte ersichtlich, die die Ungleichbehandlung rechtfertigen könnten. Von einer zukünftigen Betriebstreue haben die Tarifvertragsparteien den Anspruch nicht abhängig gemacht. Unterschiede für einen unterschiedlichen Bedarf aufgrund der gestiegenen Verbraucherpreise zwischen Vollzeitbeschäftigten und Teilzeitbeschäftigten, die sich in der Freistellungsphase der Altersteilzeit befinden, sind nicht erkennbar.

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 12. November 2024 – 9 AZR 71/24
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Düsseldorf, Urteil vom 5. März 2024 – 14 Sa 1148/23

Quelle: Pressemitteilung 29/24 des Bundesarbeitsgerichtes vom 12.11.2024

Landesarbeitsgericht bestätigt Verbot des Berliner Kita-Streiks

14. Oktober 2024

Das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg hat heute im gerichtlichen Eilverfahren die Berufung der Gewerkschaft ver.di zurückgewiesen. Damit hat es die Entscheidung des Arbeitsgerichts Berlin über die Untersagung des angekündigten unbefristeten Streiks in den Kitas der Kita-Eigenbetriebe des Landes Berlin bestätigt.

Die Gewerkschaft ver.di hatte am 26.09.2024 zu einem unbefristeten Streik in den Kitas der Kita-Eigenbetriebe des Landes Berlin aufgerufen. Ziel des Streiks war die Erzwingung von Tarifverhandlungen mit dem Land Berlin über die Regelung einer Mindestpersonalausstattung in den Kitas, über Regelungen zum Belastungsausgleich (Konsequenzenmanagement) und für mehr Zeit für Auszubildende. Die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten in den Berliner Eigenbetriebs-Kitas richten sich nach dem zwischen der Tarifgemeinschaft deutscher Länder (TdL) und der Gewerkschaft ver.di abgeschlossenen Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst der Länder (TV-L). Das Land Berlin lehnte Tarifverhandlungen mit ver.di ab, weil es als Mitglied der TdL nach deren Satzung keine von den Regelungen des TV-L abweichenden Tarifverträge schließen dürfe. Für den Fall eines Verstoßes dagegen habe die TdL bereits beschlossen, das Land Berlin aus ihrem Arbeitgeberverband auszuschließen. Im Übrigen verstoße ver.di mit den Streikforderungen betreffend Entlastungsmaßnahmen für Erzieherinnen und Erzieher und für ein Mehr an Zeit für Auszubildende gegen die Friedenspflicht während laufender Tarifverträge.

Das Arbeitsgericht hatte den ab dem 30.09.2024 angekündigten Streik durch Urteil vom 27.09.2024 untersagt (PM Nr. 18/24).

Das Landesarbeitsgericht hat die Entscheidung des Arbeitsgerichts im Ergebnis bestätigt. Das betrifft sowohl die Untersagung des aktuellen Streiks als auch die Einschätzung, dass der Gewerkschaft nicht grundsätzlich Streiks gegen das Land Berlin betreffend die Beschäftigten in Eigenbetriebs-Kitas verboten sind.

Das Risiko des Landes, aufgrund des Beschlusses der TdL aus dem Arbeitgeberverband ausgeschlossen zu werden, überwiege nicht das Grundrecht der Gewerkschaft auf Arbeitskampfmaßnahmen aus Artikel 9 Absatz 3 Grundgesetz. Es sei auch nicht ersichtlich, dass die TdL rechtlich gehindert wäre, ihren Beschluss unter besonderen Umständen zu ändern. Deshalb seien Streiks zur Durchsetzung von Tarifverhandlungen mit dem Land Berlin über Arbeitsbedingungen der Erzieherinnen und Erzieher in den Eigenbetriebs-Kitas des Landes Berlin nicht grundsätzlich unzulässig.

Der aktuell angekündigte Streik sei rechtswidrig und deshalb zu untersagen, weil die Gewerkschaft mit einem Teil ihrer Streikforderungen gegen die Friedenspflicht verstoße. Die Friedenspflicht resultiere aus § 52 TV-L. Diese Regelung speziell für Beschäftigte des Sozial- und Erziehungsdienstes der Länder Berlin, Bremen und Hamburg sei in der Tarifrunde zwischen der TdL und der Gewerkschaft ver.di im Dezember 2023 vereinbart worden. Ausgangspunkt dieser Vereinbarung sei die von ver.di geäußerte Erwartung gewesen, die Regelungen zur Entlastung von Erzieherinnen und Erziehern in der TV-L aufzunehmen, die ver.di tariflich mit der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände im Jahr 2022 geregelt hatte (TVöD-VKA). Dazu gehörten u.a. eine monatliche Zulage für Erzieherinnen und Erzieher und jährlich zwei Rehabilitationstage. Im Zuge der Tarifverhandlungen mit der TdL sei über die diesbezüglichen Regelungen aus dem TVöD-VKA verhandelt worden. Ergebnis der Verhandlung sei die Aufnahme der Zulagenregelung in den TV-L gewesen, während sich die Gewerkschaft mit den weiteren Punkten nicht habe durchsetzen können. Da alle Regelungen des TVöD-Pakets Gegenstand der Verhandlungen gewesen seien, sei dieses Paket abschließend geregelt worden. Die aktuellen Streikforderungen seien teilweise in diesem Regelungspaket enthalten, nämlich hinsichtlich der Regenerationstage und hinsichtlich der Vorbereitungszeit. Dadurch werde die Friedenspflicht verletzt.

Eine weitere Verletzung der Friedenspflicht durch die Forderung nach mehr Zeit für Auszubildende liege nicht vor. Darauf komme es aber entscheidungserheblich nicht mehr an, da der Streik aus anderen Gründen rechtswidrig sei.

Gegen die Entscheidung ist kein Rechtsmittel zulässig, sie ist rechtskräftig.

Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 11. Oktober 2024, 12 SaGa 886/24

Quelle: Pressemitteilung Nr. 20/24 vom 11.10.2024

Arbeitsgericht untersagt Kita-Streik ab dem 30.09.2024

30. September 2024

Das Arbeitsgericht Berlin hat heute auf den Antrag des Landes Berlin im gerichtlichen Eilverfahren den von der Gewerkschaft ver.di ab dem 30.09.2024 angekündigten Streik in den Kitas der Kita-Eigenbetriebe des Landes Berlin untersagt.

Zwischen der Gewerkschaft ver.di und dem Land Berlin waren seit April 2024 Gespräche über die pädagogische Qualität und über Entlastungen der Erzieherinnen und Erzieher sowie der Auszubildenden in diesem Bereich geführt worden, die erfolglos blieben. Zu dem unbefristeten Streik ab dem 30.09.2024 hatte die Gewerkschaft ver.di am 26.09.2024 ihre Mitglieder aufgerufen, nachdem in einer Urabstimmung 91,7 % der Mitglieder dafür gestimmt hatten. Ziel des Streiks war die Erzwingung von Tarifverhandlungen über die Regelung einer Mindestpersonalausstattung, über Regelungen zum Belastungsausgleich (Konsequenzenmanagement) und für eine Verbesserung der Ausbildungsbedingungen.

Das Land Berlin sah sich rechtlich als Arbeitgeber nicht zu Tarifverhandlungen mit ver.di in der Lage, weil es als Mitglied der Tarifgemeinschaft der Länder (TdL) nach deren Satzung keine von den Regelungen des Tarifvertrags der Länder (TV-L) abweichenden Tarifverträge schließen dürfe. Die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten in den Berliner Eigenbetriebs-Kitas richten sich nach dem TV-L. Nachdem das Land Berlin im Jahr 2020 mit der Zusage der Hauptstadtzulage von den tariflichen Bedingungen des TV-L abgewichen war, hatte die TdL für den Fall eines weiteren Verstoßes des Landes Berlin gegen die Satzung seinen Ausschluss aus der TdL beschlossen. Das Land Berlin ist außerdem davon ausgegangen, dass ver.di mit den Streikforderungen betreffend Entlastungsmaßnahmen für Erzieherinnen und Erzieher und für ein Mehr an Zeit für Auszubildende gegen die Friedenspflicht während laufender Tarifverträge verstoße, weil bereits entsprechende tarifliche Regelungen existierten.

Das Arbeitsgericht hat den ab dem 30.09.2024 angekündigten Streik untersagt und der Gewerkschaft aufgegeben, ihren Streikaufruf öffentlich zu widerrufen. Es ist von einer fehlenden Rechtmäßigkeit des Streiks ausgegangen. Die Gewerkschaft ver.di verstoße mit diesem Streik gegen die Friedenspflicht wegen der bestehenden tariflichen Regelungen zur Zulage für Beschäftigte in Eigenbetriebs-Kitas des Landes Berlin im TV-L und wegen der bestehenden Entlastungsregelungen für Auszubildende im maßgeblichen Ausbildungstarifvertrag. Daneben seien auch verbandspolitische Erwägungen des Landes Berlin von der Koalitionsfreiheit in Artikel 9 Absatz 3 Grundgesetz geschützt, weil das Land als Arbeitgeber berechtigt sei, sich in der Tarifgemeinschaft der Länder zu organisieren. Das Risiko eines Ausschlusses aus der TdL bei einem eigenständigen Tarifabschluss müsse das Land Berlin nicht eingehen. Das grundgesetzlich garantierte Streikrecht der Gewerkschaft aus Artikel 9 Absatz 3 Grundgesetz überwiege insoweit nicht.

Gegen die Entscheidung des Arbeitsgerichts kann das Rechtsmittel der Berufung zum Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg eingelegt werden.

Arbeitsgericht Berlin, Urteil vom 27.09.2024, 56 Ga 11777/24

Quelle: Pressemitteilung Nr. 18/24 vom 27.09.2024

Terminankündigung: Landesarbeitsgericht entscheidet über Untersagung des Berliner Kita-Streiks

Das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg verhandelt am

Freitag, 11. Oktober 2024, 11:00 Uhr, Saal 334

im Dienstgebäude Magdeburger Platz 1, 10785 Berlin, über die Berufung der Gewerkschaft ver.di gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 27. September 2024, mit dem der Berliner Kita-Streik untersagt worden war.

Das Land Berlin hatte am 26. September 2024 beantragt, der Gewerkschaft ver.di im Wege Einstweiligen Rechtsschutzes zu untersagen, Streiks in den Kitas der Kita-Eigenbetriebe des Landes Berlin zur Erzwingung von Tarifverhandlungen durchzuführen. Zu dem Streik hatte die Gewerkschaft ihre Mitglieder am 26. September 2024 aufgerufen, nachdem zuvor in einer Urabstimmung 91,7 % der Mitglieder für einen solchen Streik gestimmt hatten. Das Arbeitsgericht Berlin hat den Streik durch Urteil vom 27. September 2024 untersagt (PM Nr. 18/24 vom 27.09.2024). Der Streik wurde daraufhin nicht wie geplant ab Montag, dem 30. September 2024, durchgeführt.

Gegen das Urteil hat die Gewerkschaft ver.di am 2. Oktober 2024 Berufung zum Landesarbeitsgericht eingelegt und diese am 4. Oktober 2024 begründet.

Es findet ein Kammertermin vor der Kammer 12 des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg statt.

Az.: 12 SaGa 886/24

Quelle: Pressemitteilung Nr. 19/24 vom 09.10.2024