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Aufrechnung mit verjährten Schadensersatzforderungen wegen Beschädigung der Mietsache gegen Kautionsrückzahlungsanspruch

11. Juli 2024

Urteil vom 10. Juli 2024 – VIII ZR 184/23

Der unter anderem für das Wohnraummietrecht zuständige VIII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat heute entschieden, dass eine Aufrechnung des Vermieters mit verjährten Schadensersatzforderungen wegen Beschädigung der Mietsache gegen den Kautionsrückzahlungsanspruch des Mieters im Rahmen der Kautionsabrechnung regelmäßig auch dann möglich ist, wenn der Vermieter die ihm zustehende Ersetzungsbefugnis (Verlangen von Schadensersatz in Geld statt einer Wiederherstellung der beschädigten Sache) nicht in unverjährter Zeit ausgeübt hat.

Sachverhalt:

Die Klägerin begehrt nach Beendigung des Wohnungsmietvertrags und Rückgabe der Wohnung am 8. November 2019 die Rückzahlung der von ihr geleisteten Barkaution in Höhe von rund 780 €. Der beklagte Vermieter rechnete mit Schreiben vom 20. Mai 2020 über die Kaution ab und erklärte die Aufrechnung mit – streitigen – Schadensersatzansprüchen wegen Beschädigung der Mietsache in einer das Kautionsguthaben übersteigenden Höhe. Die Klägerin hat sich insoweit auf Verjährung berufen.

Bisheriger Prozessverlauf:

Die Klage hat in den Vorinstanzen Erfolg gehabt.

Nach Auffassung des Berufungsgerichts scheitert die vom Beklagten erklärte Aufrechnung mit Schadensersatzansprüchen wegen Beschädigung der Mietsache daran, dass diese im Zeitpunkt der Aufrechnungserklärung bereits verjährt gewesen waren.

Zwar stehe die Verjährung der Aufrechnung gemäß § 215 Alt. 1 BGB nicht entgegen, wenn die Forderung in dem Zeitpunkt, in dem erstmals aufgerechnet werden konnte, noch nicht verjährt gewesen sei. Diese Ausnahme greife vorliegend jedoch nicht ein, da eine Aufrechnungslage in unverjährter Zeit mangels Gleichartigkeit der zur Aufrechnung gestellten Forderungen nicht bestanden habe.

Der Anspruch auf Rückzahlung einer Barkaution als Geldforderung und der auf Naturalrestitution gerichtete Anspruch auf Schadensersatz wegen Beschädigung der Mietsache seien nicht gleichartig. Zwar könne der Gläubiger eines Schadensersatzanspruchs wegen Beschädigung einer Sache nach § 249 Abs. 2 Satz 1 BGB statt der Naturalrestitution den hierfür erforderlichen Geldbetrag verlangen und so die Gleichartigkeit der Forderungen herstellen. Dies erfordere jedoch die Ausübung der dem Gläubiger diesbezüglich zustehenden Ersetzungsbefugnis noch innerhalb der Verjährungsfrist.

Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Beklagte sein Klageabweisungsbegehren weiter.

Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs:

Die Revision des Beklagten hatte Erfolg. Der Bundesgerichtshof hat entschieden, dass eine von den Parteien im Wohnraummietverhältnis getroffene Barkautionsabrede typischerweise dahingehend auszulegen ist, dass die Möglichkeit des Vermieters, sich nach Beendigung des Mietverhältnisses im Rahmen der Kautionsabrechnung hinsichtlich etwaiger Schadensersatzansprüche wegen Beschädigung der Mietsache durch Aufrechnung befriedigen zu können, nicht an einer fehlenden Ausübung der Ersetzungsbefugnis in unverjährter Zeit scheitern soll.

Das Berufungsgericht hat bei seiner Beurteilung maßgeblich auf die für Schadensersatzansprüche wegen Beschädigung der Mietsache gesetzlich vorgesehene kurze Verjährungsfrist von sechs Monaten (§ 548 Abs. 1 BGB) abgestellt, innerhalb derer eine Gleichartigkeit der zur Aufrechnung gestellten Forderungen noch nicht bestanden hat. Dabei hat das Berufungsgericht jedoch die beiderseitigen Interessen der Parteien eines Wohnraummietverhältnisses im Falle der Vereinbarung einer Barkaution nicht hinreichend berücksichtigt. Eine vom Mieter gestellte Barkaution dient gerade der Sicherung der Ansprüche des Vermieters; dieser soll sich nach Beendigung des Mietverhältnisses auf einfache Weise durch Aufrechnung gegen den Kautionsrückzahlungsanspruch befriedigen können.

Soweit die Aufrechnung im Hinblick auf das bestehende Erfordernis der Gleichartigkeit der beiden Forderungen voraussetzt, dass der Vermieter die ihm bezüglich etwaiger Schadensersatzansprüche wegen Beschädigung der Mietsache zustehende Ersetzungsbefugnis ausübt, um Schadensersatz in Form eines Geldbetrags verlangen zu können, hat der Mieter regelmäßig kein Interesse daran, dass dies noch in unverjährter Zeit erfolgt. Die isolierte Ausübung der Ersetzungsbefugnis innerhalb der Verjährungsfrist wäre insofern ein lediglich formaler Schritt im Vorfeld zu der für beide Parteien letztlich maßgeblichen Abrechnung des Vermieters über die Barkaution, die ihrerseits nach der Rechtsprechung des Senats nicht in jedem Fall innerhalb der kurzen Verjährungsfrist zu erfolgen hat.

Da die Aufrechnung des Vermieters hiernach nicht an der Verjährung scheitert, hat der Senat das Berufungsurteil aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen, damit dieses die erforderlichen Feststellungen dazu treffen kann, ob die von dem beklagten Vermieter behaupteten Schadensersatzansprüche bestehen.

Vorinstanzen:

AG Erlangen – 1 C 302/21 – Urteil vom 7. Juli 2022

LG Nürnberg-Fürth – 7 S 3897/22 – Urteil vom 25. Juli 2023

Die maßgeblichen Vorschriften lauten:

§ 215 BGB

Die Verjährung schließt die Aufrechnung und die Geltendmachung eines Zurückbehaltungsrechts nicht aus, wenn der Anspruch in dem Zeitpunkt noch nicht verjährt war, in dem erstmals aufgerechnet oder die Leistung verweigert werden konnte.

§ 249 BGB

(1) Wer zum Schadensersatz verpflichtet ist, hat den Zustand herzustellen, der bestehen würde, wenn der zum Ersatz verpflichtende Umstand nicht eingetreten wäre.

(2) Ist wegen Verletzung einer Person oder wegen Beschädigung einer Sache Schadensersatz zu leisten, so kann der Gläubiger statt der Herstellung den dazu erforderlichen Geldbetrag verlangen. […]

§ 387 BGB

Schulden zwei Personen einander Leistungen, die ihrem Gegenstand nach gleichartig sind, so kann jeder Teil seine Forderung gegen die Forderung des anderen Teils aufrechnen, sobald er die ihm gebührende Leistung fordern und die ihm obliegende Leistung bewirken kann.

§ 548 BGB

(1) Die Ersatzansprüche des Vermieters wegen Veränderungen oder Verschlechterungen der Mietsache verjähren in sechs Monaten. Die Verjährung beginnt mit dem Zeitpunkt, in dem er die Mietsache zurückerhält. […]

Urteil des VIII. Zivilsenats vom 10.7.2024 – VIII ZR 184/23 -

Quelle: Pressemitteilung Nr. 144/2024 des Bundesgerichtshofes vom 10.07.2024

Einer schwangeren Arbeitnehmerin muss eine angemessene Frist eingeräumt werden, um ihre Kündigung vor Gericht anfechten zu können

28. Juni 2024

Eine Frist von zwei Wochen für den Antrag auf Zulassung einer verspäteten Klage scheint zu kurz zu sein.

Eine Angestellte eines Pflegeheims ficht ihre Kündigung vor einem deutschen Arbeitsgericht an. Sie beruft sich auf das Verbot, einer Schwangeren zu kündigen. Das Arbeitsgericht ist der Auffassung, dass es die Klage normalerweise als verspätet abweisen müsse.

Als die Arbeitnehmerin von ihrer Schwangerschaft Kenntnis erlangt und die Klage erhoben habe, sei nämlich die im deutschen Recht vorgesehene ordentliche Frist – drei Wochen (1) nach Zugang der schriftlichen Kündigung – bereits verstrichen gewesen. Überdies habe die Arbeitnehmerin es versäumt, innerhalb der im deutschen Recht vorgesehenen weiteren Frist von zwei Wochen1 einen Antrag auf Zulassung der verspäteten Klage zu stellen. Das Arbeitsgericht fragt sich jedoch, ob die in Rede stehende deutsche Regelung mit der Richtlinie über schwangere Arbeitnehmerinnen vereinbar ist (2).

Es hat daher den Gerichtshof dazu befragt. Der Gerichtshof stellt fest, dass nach der deutschen Regelung eine schwangere Arbeitnehmerin, die zum Zeitpunkt ihrer Kündigung Kenntnis von ihrer Schwangerschaft hat, über eine Frist von drei Wochen verfügt, um eine Klage zu erheben (3).

Dagegen verfügt eine Arbeitnehmerin, die aus einem von ihr nicht zu vertretenden Grund vor Verstreichen dieser Frist keine Kenntnis von ihrer Schwangerschaft hat, nur über zwei Wochen, um zu beantragen, eine solche Klage erheben zu können.

Nach Auffassung des Gerichtshofs scheint eine so kurze Frist, insbesondere verglichen mit der ordentlichen Frist von drei Wochen, mit der Richtlinie unvereinbar zu sein (4). In Anbetracht der Situation, in der sich eine Frau zu Beginn ihrer Schwangerschaft befindet, scheint diese kurze Frist nämlich dazu angetan, es der schwangeren Arbeitnehmerin sehr zu erschweren, sich sachgerecht beraten zu lassen und gegebenenfalls einen Antrag auf Zulassung der verspäteten Klage sowie die eigentliche Klage abzufassen und einzureichen.

Es ist jedoch Sache des Arbeitsgerichts, zu prüfen, ob dies tatsächlich der Fall ist.

Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache C-284/23 | Haus Jacobus

(1) Nach Behebung des Hindernisses für die Klageerhebung.
(2) Richtlinie 92/85/EWG des Rates vom 19. Oktober 1992 über die Durchführung von Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des
Gesundheitsschutzes von schwangeren Arbeitnehmerinnen, Wöchnerinnen und stillenden Arbeitnehmerinnen am Arbeitsplatz.
(3) Nach Verstreichen dieser Frist gilt die Kündigung als wirksam, sofern nicht ein Antrag auf Zulassung der verspäteten Klage gestellt wird.
(4) In seinem Urteil vom 29. Oktober 2009, Pontin, C-63/08 (vgl. auch die Pressemitteilung Nr. 98/09), hat sich der Gerichtshof in Bezug auf eine Frist
von 15 Tagen, die für eine schwangere Arbeitnehmerin für die Erhebung einer Klage auf Nichtigerklärung ihrer Kündigung gelten sollte, bereits in
diesem Sinne geäußer

Quelle: Pressemitteilung Nr. 108/24 des Gerichtshofes der Europäischen Union vom 27.06.2024

Einrichtungsbezogener Impfnachweis – unbezahlte Freistellung – Abmahnung wegen Nichtvorlage eines Impfnachweises

27. Juni 2024

Betreiber von Pflegeeinrichtungen iSd. vormaligen § 20a Abs. 1 Infektionsschutzgesetz (IfSG aF) durften in der Zeit vom 16. März 2022 bis zum 31. Dezember 2022 nicht gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 geimpfte Mitarbeiter ohne Fortzahlung der Vergütung von der Arbeit freistellen. Zur Abmahnung dieser Arbeitnehmer waren die Arbeitgeber dagegen nicht berechtigt.

Der Beklagte betreibt ein Altenpflegeheim. Die Klägerin ist bei ihm seit 2007 als Altenpflegerin beschäftigt. Sie ließ sich nicht gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 impfen und legte dem Beklagten entgegen der gesetzlichen Vorgabe weder einen Impfnachweis noch einen Genesenennachweis oder ein ärztliches Attest, dass sie nicht geimpft werden könne, vor. Der Beklagte erteilte ihr deshalb eine Abmahnung und stellte sie ab dem 16. März 2022 bis auf Widerruf ohne Fortzahlung der Vergütung von der Arbeit frei. Vom 21. bis zum 31. März 2022 war die Klägerin außerdem infolge einer Corona-Infektion arbeitsunfähig krank.

Mit ihrer Klage hat die Klägerin die Entfernung der ihr erteilten Abmahnung aus der Personalakte sowie restliche Vergütung für März 2022 verlangt. Sie hat geltend gemacht, es habe keine arbeitsvertragliche Pflicht bestanden, dem Arbeitgeber den Impf- oder Genesenenstatus nachzuweisen. Der Beklagte sei zu einer unbezahlten Freistellung nicht berechtigt gewesen, weil sie als sog. Bestandsmitarbeiterin (das sind vor dem 16. März 2022 eingestellte Arbeitnehmer) bis zu einer entsprechenden Untersagung durch die zuständige Behörde auch ohne Impfung gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 hätte weiter arbeiten dürfen. Der Beklagte hat Klageabweisung beantragt und im Wesentlichen gemeint, er sei aufgrund der infektionsschutzrechtlichen Vorgaben berechtigt gewesen, in seiner Pflegeeinrichtung nur noch geimpftes oder genesenes Personal zu beschäftigen.

Die Vorinstanzen haben der Klägerin restliche Vergütung für März 2022 zugesprochen. Die Klage auf Entfernung der Abmahnung aus der Personalakte hat das Arbeitsgericht abgewiesen, das Landesarbeitsgericht hat ihr stattgegeben. Auf die Revision des Beklagten hat der Fünfte Senat des Bundesarbeitsgerichts die Klage auf Vergütung abgewiesen, hinsichtlich der Abmahnung jedoch die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts im Ergebnis bestätigt.

Die Klägerin hat für die Zeit ihrer Freistellung im März 2022 keinen Anspruch auf Vergütung wegen Annahmeverzugs (§ 615 Satz 1 iVm. § 611a Abs. 2 BGB), weil sie entgegen der Anordnung des Beklagten diesem keinen Immunitätsnachweis iSd. § 20a IfSG aF vorgelegt hat und damit außerstande war, die geschuldete Arbeitsleistung zu bewirken (§ 297 BGB). Nach § 20a IfSG aF, der der verfassungsrechtlichen Überprüfung durch das Bundesverfassungsgericht standhielt (BVerfG 27. April 2022 – 1 BvR 2649/21BVerfGE 161, 299), war nicht nur das Gesundheitsamt berechtigt, einer Person, die den Immunitätsnachweis nicht vorgelegt hatte, zu untersagen, die jeweilige Einrichtung zu betreten und dort tätig zu werden. Der aus der Gesetzesbegründung herzuleitende Zweck der Regelung, insbesondere vulnerable Bewohner von Pflegeeinrichtungen und Patienten von Krankenhäusern vor einer Infektion mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 zu schützen und zugleich die Funktionsfähigkeit der Einrichtungen aufrechtzuerhalten, eröffnete ebenso den Arbeitgebern als Betreibern dieser Einrichtungen die rechtliche Möglichkeit, im Wege des Weisungsrechts nach § 106 Satz 1 GewO die Vorgaben des § 20a IfSG aF umzusetzen und die Vorlage eines Immunitätsnachweises für den begrenzten Zeitraum vom 16. März bis zum 31. Dezember 2022 zur Tätigkeitsvoraussetzung zu machen. Da die Gesundheitsämter in jener Zeit völlig überlastet waren, war anders eine sachgerechte und zeitnahe Umsetzung dieser Schutzmaßnahme, die die Interessen der besonders gefährdeten Personengruppen und die Funktionsfähigkeit der einzelnen Einrichtung berücksichtigte, nicht möglich. Dass sich in den Jahren danach Zweifel an der Effektivität dieser Maßnahme ergaben, steht der Wirksamkeit der Weisungen nicht entgegen. Maßgeblich ist insoweit der Zeitpunkt der Weisung. Anfang des Jahres 2022 entsprach es ganz überwiegender wissenschaftlicher und auch der vom Bundesministerium für Gesundheit und dem Robert-Koch-Institut vertretenen Auffassung, dass eine Impfung gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 vor einer Übertragung des Virus schützt. Hiervon konnte auch der Beklagte ausgehen.

Soweit die Klägerin im Streitzeitraum auch arbeitsunfähig krank war, scheitert ein Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall nach § 3 Abs. 1 EFZG am Grundsatz der sog. Monokausalität, denn die Erkrankung der Klägerin war wegen des zugleich fehlenden Immunitätsnachweises nicht die alleinige Ursache für den Verdienstausfall.

Erfolglos blieb dagegen die Revision des Beklagten hinsichtlich seiner Verurteilung, die der Klägerin erteilte Abmahnung aus deren Personalakte zu entfernen. Eine Abmahnung soll den Arbeitnehmer grundsätzlich auf eine Verletzung arbeitsvertraglicher Pflichten aufmerksam machen, ihn für die Zukunft zu einem vertragstreuen Verhalten auffordern und ihm mögliche Konsequenzen für den Fall einer erneuten Pflichtverletzung aufzeigen. In der unterlassenen Vorlage eines Immunitätsnachweises (§ 20a Abs. 2 IfSG aF) liegt danach keine abmahnfähige Pflichtverletzung. Das in Art. 2 Abs. 1 GG wurzelnde Selbstbestimmungsrecht der im Pflegebereich Tätigen, in freier Entscheidung eine Impfung gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 abzulehnen, sowie deren Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) hatten Arbeitgeber als höchstpersönliche Entscheidung der Arbeitnehmer zu respektieren. Wegen des vom Beklagten zu achtenden besonderen Charakters dieser grundrechtlich geschützten Entscheidung der Klägerin erweist sich die Abmahnung als ungeeignetes Mittel zur Verhaltenssteuerung. Aufgrund der mit ihr verbundenen Gefährdung des Bestands des Arbeitsverhältnisses ist sie – anders als der vorübergehende Verlust der Entgeltansprüche für die befristete Dauer der Freistellung – eine unangemessene Druckausübung und damit unverhältnismäßig.

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 19. Juni 2024 – 5 AZR 192/23
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg – Kammern Freiburg, Urteil vom 28. Februar 2023 – 11 Sa 51/22

Hinweise: Vgl. auch die ähnlich gelagerte Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom heutigen Tag, Urteil vom 19. Juni 2024 – 5 AZR 167/23

Quelle: Pressemitteilung 16/24 des Bundesarbeitsgerichtes vom 19.06.2024

Beurteilung der Erfolgsaussichten einer Deckungsklage in der Rechtsschutzversicherung – “Dieselklagen”

11. Juni 2024

Urteil vom 5. Juni 2024 – IV ZR 140/23

Der unter anderem für Versicherungsvertragsrecht zuständige IV. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat entschieden, dass für die Beurteilung der hinreichenden Erfolgsaussicht des Deckungsschutzanspruchs eines Versicherungsnehmers in der Rechtsschutzversicherung der Zeitpunkt des Schlusses der letzten mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht maßgeblich ist, wenn im Deckungsschutzverfahren nach dem Zeitpunkt der Bewilligungsreife eine Klärung durch die höchstrichterliche Rechtsprechung (hier durch den Gerichtshof der Europäischen Union in den sog. Dieselverfahren) zu seinen Gunsten erfolgt.

Sachverhalt und bisheriger Prozessverlauf:

Der Kläger nimmt die Beklagte auf Feststellung der Verpflichtung zur Gewährung von Deckungsschutz für die außergerichtliche und erstinstanzliche Wahrnehmung seiner rechtlichen Interessen gegen eine Herstellerin wegen behaupteter Verwendung unzulässiger Abschalteinrichtungen für die Abgasreinigung bei einem von ihm erworbenen Fahrzeug in Anspruch. Er unterhält bei der Beklagten eine Rechtsschutzversicherung, die Schadensersatzansprüche umfasst. Die dem Versicherungsvertrag zugrundeliegenden Allgemeinen Rechtsschutz-Versicherungsbedingungen (ARB 2016) lauten auszugsweise:

Ҥ 3a Ablehnung des Rechtsschutzes wegen mangelnder Erfolgsaussichten oder wegen Mutwilligkeit РStichentscheid

Die A. kann den Rechtsschutz ablehnen, wenn ihrer Auffassung nach

a)in einem der Fälle des § 2 a) bis g), n), q) aa) und cc) sowie r) aa) die Wahrnehmung der rechtlichen Interessen keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat oder

In diesen Fällen ist dem Versicherungsnehmer, nachdem dieser die Pflichten gemäß § 17 Abs. 1 b) erfüllt hat, die Ablehnung unverzüglich unter Angabe der Gründe schriftlich mitzuteilen.

…”.

Der Kläger erwarb im August 2020 ein gebrauchtes Wohnmobil zu einem Kaufpreis von 39.790 €. Er beabsichtigt mit einer Klage gegen die Herstellerin, Schadensersatzansprüche (§§ 823 Abs. 2, 826 BGB) gerichtet auf Rückabwicklung des Kaufvertrages geltend zu machen. Er wirft ihr vor, die Verantwortlichen hätten das von ihm erworbene Fahrzeug mit unzulässigen Abschalteinrichtungen im Sinne des Art. 5 Abs. 2 VO (EG) 715/2007, insbesondere einem Thermofenster, ausgestattet und ihn dadurch vorsätzlich und sittenwidrig geschädigt. Die Beklagte hat die erbetene Kostenzusage mit Schreiben vom 16. Februar 2021 abgelehnt, weil weder ein Rechtsverstoß vorliege noch Erfolgsaussichten in der Sache bestünden.

Das Landgericht hat die Deckungsschutzklage abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das Oberlandesgericht – im schriftlichen Verfahren mit Schriftsatzfrist bis zum 15. Mai 2023 – unter Zurückweisung des Rechtsmittels im Übrigen das erstinstanzliche Urteil abgeändert und unter anderem festgestellt, dass die Beklagte aus dem Versicherungsvertrag verpflichtet ist, die Kosten der erstinstanzlichen Geltendmachung von deliktischen Schadensersatzansprüchen des Klägers gegen die Herstellerin aufgrund des Kaufs des Fahrzeugs und der von dem Kläger behaupteten Manipulation der Abgassteuerung dieses Fahrzeugs aus einem Streitwert von bis zu 38.848,89 € zu tragen. Dagegen richtet sich die vom Berufungsgericht zugelassene Revision der Beklagten, mit der sie ihr Begehren auf vollständige Klageabweisung weiterverfolgt.

Entscheidung des Senats:

Der Bundesgerichtshof hat die Revision des Versicherers zurückgewiesen. Erfolgt nach dem Zeitpunkt der sogenannten Bewilligungsreife eine Klärung der Rechtslage durch die höchstrichterliche Rechtsprechung (hier durch den Gerichtshof der Europäischen Union) zugunsten des Versicherungsnehmers, sind für die Beurteilung des Deckungsschutzanspruchs die Erfolgsaussichten der beabsichtigten Klage im Zeitpunkt des Schlusses der letzten mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht maßgeblich.

Für die Frage, ob die beabsichtigte Wahrnehmung der rechtlichen Interessen des Versicherungsnehmers hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet, ist zwar grundsätzlich auf den Zeitpunkt der Bewilligungsreife des Deckungsgesuchs, d.h. auf den Zeitpunkt, in dem der Rechtsschutzversicherer seine Entscheidung trifft (hier Dezember 2021), abzustellen. Treten aber – wie hier – zwischen der ablehnenden Entscheidung des Deckungsschutzantrags und der gerichtlichen Entscheidung über eine Deckungsklage Änderungen in der Beurteilung der Erfolgsaussichten ein, die sich zugunsten des Rechtsschutzsuchenden auswirken und die nach dem einschlägigen Fachrecht zu berücksichtigen sind, sind diese bei der Prüfung der Erfolgsaussichten zu beachten. Das Berufungsgericht hat im Streitfall daher zu Recht bei der Prüfung der Erfolgsaussichten die nach dem Zeitpunkt der Deckungsablehnung ergangene, dem klagenden Versicherungsnehmer günstige Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH, Urteil vom 21. März 2023, Mercedes-Benz Group, C- 00/21, EU:C:2023:229, NJW 2023, 1111 ff.) berücksichtigt, wonach Art. 18 Abs. 1, Art. 26 Abs. 1 und Art. 46 der Richtlinie 2007/46/EG (Rahmenrichtlinie) i.V.m. Art. 5 Abs. 2 Verordnung (EG) Nr. 715/2007 die Einzelinteressen des individuellen Käufers eines Kraftfahrzeugs schützen können.

Das Berufungsgericht hat auch rechtsfehlerfrei entschieden, dass die vom Kläger beabsichtigte gerichtliche Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen Aussicht auf Erfolg hat. Zum Zeitpunkt des Ablaufs der im schriftlichen Verfahren gemäß § 128 Abs. 2 Satz 2 ZPO bis zum 15. Mai 2023 festgesetzten Schriftsatzfrist, die dem Schluss der mündlichen Verhandlung entspricht, ist das Berufungsgericht unter Berücksichtigung der genannten Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 21. März 2023 sowie der Anforderungen an die hinreichenden Erfolgsaussichten der beabsichtigen Klage nach der Behauptung des Klägers zum Vorliegen einer unzulässigen Abschalteinrichtung aufgrund des behaupteten Thermofensters ohne Rechtsfehler davon ausgegangen, dass die Annahme eines fälligen Schadensersatzanspruchs aus §§ 823 Abs. 2, 31 BGB i.V.m. §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV, Art. 5 Abs. 2 Verordnung (EG) Nr. 715/2007 und Art. 18 Abs. 1, Art. 26 Abs. 1 und Art. 46 der Richtlinie 2007/46/EG (Rahmenrichtlinie) jedenfalls nicht unvertretbar erschien. Zu diesem Zeitpunkt bedurften die Einzelheiten der Voraussetzungen und der Modalitäten eines solchen Schadensersatzanspruchs noch einer weiteren Klärung, die erst durch die Urteile des Bundesgerichtshofs vom 26. Juni 2023 erfolgte. Soweit sich aus den neueren Entscheidungen des Bundesgerichtshofs ergeben könnte, dass dem Kläger der geltend gemachte Schadensersatzanspruch nicht oder nur im geringeren Umfang zusteht, führt dies hier zu keinem anderen Ergebnis, weil das Berufungsgericht zum Zeitpunkt des Erlasses seines Urteils die weitere Entwicklung der Rechtsprechung nicht absehen konnte.

Vorinstanzen:

Landgericht Dortmund – Urteil vom 4. Januar 2023 – 7 O 20/22

Oberlandesgericht Hamm – Urteil vom 12. Juni 2023 – 6 U 22/23

Quelle: Pressemitteilung des Bundesgerichteshofes Nr. 127/2024 vom 05.06.2024

Kontrollpflichten eines Rechtsanwalts bei Fristsachen – Änderung der Rechtsprechung?

28. Mai 2024

Der Sechste Senat des Bundesarbeitsgerichts beabsichtigt, sich der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) zur Sorgfaltspflicht des Rechtsanwalts in Fristsachen anzuschließen, wonach ein Rechtsanwalt den Ablauf von Rechtsmittelbegründungsfristen immer dann eigenverantwortlich zu prüfen hat, wenn ihm die Akten im Zusammenhang mit einer fristgebundenen Verfahrenshandlung, insbesondere zu deren Bearbeitung, vorgelegt werden. Dabei muss der Rechtsanwalt auch alle weiteren unerledigten Fristen einschließlich ihrer Notierung in den Handakten prüfen, wobei er sich hierbei grundsätzlich auf die Prüfung der Vermerke in der Handakte beschränken darf, sofern sich keine Zweifel an deren Richtigkeit aufdrängen (BGH 17. Mai 2023 – XII ZB 533/22 -; 19. Oktober 2022 – XII ZB 113/21 -).

Hierin liegt eine entscheidungserhebliche Abweichung zur Rechtsprechung des Ersten, Dritten, Achten und Neunten Senats des Bundesarbeitsgerichts, wonach ein Rechtsanwalt bei Vorlage der Handakten zur Anfertigung der Rechtsmittelschrift neben der Rechtsmittelfrist auch die ordnungsgemäße Notierung der Rechtsmittelbegründungsfrist im Fristenkalender zu kontrollieren hat (10. Januar 2003 – 1 AZR 70/02 -; 17. Oktober 2012 – 3 AZR 633/12 -; 31. Januar 2008 – 8 AZR 27/07 – und 18. Juni 2015 – 8 AZR 556/14 -; 18. Januar 2006 – 9 AZR 454/04 – nv).

Der Sechste Senat hat deshalb in dem Verfahren – 6 AZR 155/23 – mit Beschluss vom heutigen Tag nach § 45 Abs. 3 Satz 1 ArbGG angefragt, ob der Erste, Dritte, Achte und Neunte Senat an ihrer Rechtsauffassung festhalten, und den Rechtsstreit bis zur Beantwortung der Divergenzanfrage entsprechend § 148 ZPO ausgesetzt.

Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 23. Mai 2024 – 6 AZR 155/23 (A) –
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht München, Urteil vom 14. Februar 2023 – 7 Sa 493/22

Quelle: Pressemitteilung Nr. 14/24 des Bundesarbeitsgerichtes vom 23.05.2024

Massenentlassung – Rechtsfolgen von Fehlern im Anzeigeverfahren – ergänzende Vorlage

23. Mai 2024

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer Kündigung im Rahmen einer Massenentlassung. Entscheidungserheblich ist, ob diese bei der Agentur für Arbeit ordnungsgemäß angezeigt wurde.

Der Sechste Senat des Bundesarbeitsgerichts hat durch Beschluss vom 14. Dezember 2023 – 6 AZR 157/22 (B) – nach § 45 Abs. 3 Satz 1 ArbGG bei dem Zweiten Senat des Bundesarbeitsgerichts angefragt, ob dieser an seiner Rechtsauffassung festhält, dass eine im Rahmen einer Massenentlassung erklärte Kündigung nichtig ist, wenn im Zeitpunkt ihres Zugangs keine oder eine fehlerhafte Anzeige nach § 17 Abs. 1 und Abs. 3 KSchG vorliegt (vgl. Pressemitteilung Nr. 46/23).

Der Zweite Senat hat mit Beschluss vom 1. Februar 2024 – 2 AS 22/23 (A) – das Anfrageverfahren ausgesetzt und den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) um die Beantwortung von erforderlichen Fragen zur Auslegung der den §§ 17 ff. KSchG zugrundeliegenden Richtlinie 98/59/EG des Rates vom 20. Juli 1998 zur Angleichung von Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen ersucht (vgl. Pressemitteilung Nr. 4/24).

In Ergänzung dieser Vorlage hat der Sechste Senat mit Beschluss vom heutigen Tag den EuGH um die Auslegung des Unionsrechts ua. dazu ersucht, ob der Zweck der Massenentlassungsanzeige erfüllt ist, wenn die Agentur für Arbeit eine fehlerhafte Massenentlassungsanzeige nicht beanstandet und sich damit als ausreichend informiert betrachtet.

Der genaue Wortlaut der Vorlagefragen ist nachzulesen auf www.bundesarbeitsgericht.de unter dem Menüpunkt „Sitzungsergebnisse“.

Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 23. Mai 2024 – 6 AZR 152/22 (A) –
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Düsseldorf, Urteil vom 28. Oktober 2021 – 5 Sa 47/21

Quelle: Pressemitteilung 13/24 des Bundesarbeitsgerichtes vom 23.05.2024

Arbeitgeberin darf Rot als Farbe der Arbeitsschutzhose vorschreiben

21. Mai 2024

Der Kläger war bei der Beklagten, einem Industriebetrieb, seit dem 01.06.2014 im Bereich der Produktion beschäftigt. Zu seinen Aufgaben gehörten u.a. Arbeiten mit Kappsägen und Akkubohrern zum Zuschnitt bzw. der Montage von Profilen sowie knieende Arbeiten, vor allem bei der Montage.

Bei der Beklagten gab es eine Kleiderordnung. Danach stellte die Arbeitgeberin für alle betrieblichen Tätigkeiten in Montage, Produktion und Logistik funktionelle Arbeitskleidung zur Verfügung. Dazu gehörten u.a. rote Arbeitsschutzhosen, die in den genannten Bereichen zu tragen waren. Nachdem der Kläger im November 2023 auch nach zwei Abmahnungen weiterhin nicht in der roten Arbeitshose erschien, sondern weiterhin eine schwarze Hose trug, kündigte die Beklagte am 27.11.2023 das Arbeitsverhältnis ordentlich fristgerecht zum 29.02.2024.

Die gegen diese Kündigung vom Kläger erhobene Kündigungsschutzklage blieb wie bereits bei dem Arbeitsgericht Solingen heute vor der 3. Kammer des Landesarbeitsgerichts Düsseldorf erfolglos. Die Arbeitgeberin war aufgrund ihres Weisungsrechts berechtigt, Rot als Farbe für die Arbeitsschutzhosen vorzuschreiben. Da das Allgemeine Persönlichkeitsrecht des Klägers nur in der Sozialsphäre betroffen war, genügten sachliche Gründe. Diese waren vorhanden. Ein maßgeblicher berechtigter Aspekt war die Arbeitssicherheit. Die Arbeitgeberin durfte Rot als Signalfarbe wählen, weil der Kläger auch in Produktionsbereichen arbeitete, in denen Gabelstapler fuhren. Aber auch im Übrigen Produktionsbereich erhöhte die Farbe Rot die Sichtbarkeit der Beschäftigten. Weiterer sachlicher Grund auf Arbeitgeberseite war die Wahrung der Corporate Identity in den Werkshallen. Überwiegende Gründe vermochte der Kläger, welcher die rote Arbeitshose zuvor langjährig getragen hatte, weder schriftsätzlich noch im Termin vorzubringen. Sein aktuelles ästhetisches Empfinden betreffend die Hosenfarbe genügte nicht. Die Interessenabwägung fiel zu Lasten des Klägers aus. Nach zwei Abmahnungen und der beharrlichen Weigerung, der Weisung der Beklagten nachzukommen, überwog trotz der langen beanstandungsfreien Beschäftigungsdauer das Beendigungsinteresse der Beklagten. Die ordentliche Kündigung hat das Arbeitsverhältnis mit dem Kläger zum 29.02.2024 beendet.

Das Landesarbeitsgericht hat die Revision nicht zugelassen.

Landesarbeitsgericht Düsseldorf, Urteil vom 21.05.2024 – 3 SLa 224/24
Arbeitsgericht Solingen, Urteil vom 15.03.2024 – 1 Ca 1749/23

Quelle: Pressemitteilung des LAG Düsseldorf Nr. 9/24 vom 21.05.2024

Übertragung der Grundsätze zum Werkstattrisiko auf den Sachverständigen (Sachverständigenrisiko)

15. April 2024

Urteil vom 12. März 2024 – VI ZR 280/22

Der unter anderem für Rechtsstreitigkeiten über Ansprüche aus Unfällen zuständige VI. Zivilsenat hat die mit Urteilen vom 16. Januar 2024 – VI ZR 253/22 und VI ZR 239/22 (Pressemitteilung Nr. 7/2024) fortentwickelten Grundsätze zum Werkstattrisiko auf überhöhte Kostenansätze eines Sachverständigen übertragen, den der Geschädigte mit der Begutachtung seines Fahrzeugs zur Ermittlung des unfallbedingten Schadens beauftragt hat.

Sachverhalt:

Bei einem Verkehrsunfall, für den die Beklagte als Haftpflichtversicherer des Unfallgegners dem Grunde nach voll haftet, wurde ein Pkw beschädigt. Dessen Halter beauftragte die Klägerin, Inhaberin eines Sachverständigenbüros, mit der Begutachtung seines verunfallten Pkw und trat gleichzeitig seine diesbezüglichen Schadensersatzansprüche gegen die Beklagte an die Klägerin ab. Die Beklagte erstattete die Kosten für das Gutachten mit Ausnahme der von der Klägerin in Rechnung gestellten Position “Zuschlag Schutzmaßnahme Corona” in Höhe von 20 €. Die Klägerin hat diese Rechnungsposition damit begründet, dass sie insbesondere Desinfektionsmittel, Einwegreinigungstücher und Einmalhandschuhe habe anschaffen müssen. Mit der Klage hat sie die Verurteilung der Beklagten zur Zahlung von 20 € nebst Zinsen verlangt.

Bisheriger Prozessverlauf:

Das Amtsgericht hat die Klage abgewiesen, das Landgericht hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Es war der Auffassung, dass eine “Corona-Pauschale” von dem Sachverständigen nicht gesondert in Rechnung gestellt werden dürfe.

Entscheidung des Senats:

Die Revision der Klägerin hatte Erfolg. Das Urteil des Berufungsgerichts wurde aufgehoben und die Sache an das Berufungsgericht zur neuen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.

Dem Geschädigten stand dem Grunde nach ein Anspruch gegen die Beklagte auf Ersatz der Kosten des eingeholten Sachverständigengutachtens zu; denn er ist grundsätzlich berechtigt, einen qualifizierten Gutachter seiner Wahl mit der Erstellung des Schadensgutachtens zu beauftragen. Dieser Anspruch ist durch die Abtretung auf das klagende Sachverständigenbüro übergegangen.

Auf gegebenenfalls überhöhte Kostenansätze eines Kfz-Sachverständigen sind die Grundsätze zum Werkstattrisiko, die der Senat in seinem Urteil vom 16. Januar 2024 – VI ZR 253/22 für überhöhte Kostenansätze einer Werkstatt für die Reparatur des beschädigten Fahrzeugs fortentwickelt hat, übertragbar. Denn den Erkenntnis- und Einwirkungsmöglichkeiten des Geschädigten sind nicht nur in dem werkvertraglichen Verhältnis mit einer Reparaturwerkstatt, sondern auch in dem werkvertraglichen Verhältnis mit einem Kfz-Sachverständigen Grenzen gesetzt, vor allem sobald er den Gutachtensauftrag erteilt und das Fahrzeug in die Hände des Gutachters gegeben hat. Ersatzfähig im Verhältnis des Geschädigten zum Schädiger sind demnach auch diejenigen Rechnungspositionen, die ohne Schuld des Geschädigten etwa wegen überhöhter Ansätze von Material oder Arbeitszeit oder wegen unsachgemäßer oder unwirtschaftlicher Arbeitsweise unangemessen, mithin nicht zur Herstellung erforderlich im Sinne des § 249 Abs. 2 Satz 1 BGB sind. Bei einem Kfz-Sachverständigen, der sein Grundhonorar nicht nach Stunden, sondern nach Schadenshöhe berechnet, kommt ein für den Geschädigten nicht erkennbar überhöhter Ansatz beispielsweise auch dann in Betracht, wenn der Gutachter den Schaden unzutreffend zu hoch einschätzt. Diesbezügliche Mehraufwendungen sind dann ebenfalls ersatzfähig, ebenso Rechnungspositionen, die sich auf – für den Geschädigten nicht erkennbar – tatsächlich nicht durchgeführte Maßnahmen im Zusammenhang mit der Begutachtung beziehen. Allerdings kann der Schädiger im Rahmen des Vorteilsausgleichs die Abtretung gegebenenfalls bestehender Ansprüche des Geschädigten gegen den Sachverständigen verlangen.

Die Anwendung der genannten Grundsätze zum Werkstattrisiko auf die Sachverständigenkosten setzt nicht voraus, dass der Geschädigte die Rechnung des Sachverständigen bereits bezahlt hat. Soweit der Geschädigte die Rechnung nicht beglichen hat, kann er – will er das Werkstattrisiko bzw. hier das Sachverständigenrisiko nicht selbst tragen – die Zahlung der Sachverständigenkosten allerdings nicht an sich, sondern nur an den Sachverständigen verlangen, Zug um Zug gegen Abtretung etwaiger (dieses Risiko betreffender) Ansprüche des Geschädigten gegen den Sachverständigen. Es gelten auch insoweit dieselben Grundsätze wie für die Instandsetzung des beschädigten Fahrzeugs.

Hat sich der Sachverständige die Schadensersatzforderung des Geschädigten in Höhe der Honorarforderung abtreten lassen, kann er sich als Zessionar allerdings nicht auf das Sachverständigenrisiko berufen. Die diesbezüglich im Senatsurteil vom 16. Januar 2024 – VI ZR 239/22 entwickelten Grundsätze gelten entsprechend für den Sachverständigen.

Da im vorliegenden Fall die Klägerin (Inhaberin des Sachverständigenbüros) aus abgetretenem Recht des Geschädigten vorgeht, kann sie sich auf das Sachverständigenrisiko nicht berufen. Sie hat vielmehr darzulegen und ggf. zu beweisen, dass die mit der Pauschale abgerechneten Corona-Schutzmaßnahmen tatsächlich durchgeführt wurden und objektiv erforderlich waren und dass die Pauschale auch ihrer Höhe nach nicht über das Erforderliche hinausgeht.

Bei der Beurteilung, ob die durchgeführten Corona-Schutzmaßnahmen objektiv erforderlich waren, ist zu berücksichtigen, dass einem Sachverständigen als Unternehmer gewisse Entscheidungsspielräume hinsichtlich seines individuellen Hygienekonzepts während der Corona-Pandemie zuzugestehen sind. Dabei geht es nicht nur um den Schutz des Sachverständigen und seiner Mitarbeiter vor einer Ansteckung mit dem Corona-Virus, sondern auch um den Schutz, den der Auftraggeber der jeweiligen Begutachtung während der Pandemie im Hinblick auf Maßnahmen, die in seinem Fahrzeug durchgeführt werden, üblicherweise bzw. aufgrund der Gepflogenheiten während der Pandemie erwarten darf; diesen Erwartungen zu entsprechen ist ein berechtigtes Anliegen des Sachverständigen. Es begegnet auch keinen grundsätzlichen Bedenken, dass die Klägerin die Corona-Pauschale gesondert berechnet hat. Einem Kfz-Sachverständigen steht es frei, neben einem Grundhonorar für seine eigentliche Sachverständigentätigkeit Nebenkosten, auch in Form von Pauschalen, für tatsächlich angefallene Aufwendungen abzurechnen. Die betriebswirtschaftliche Entscheidung, ob die für das Hygienekonzept in der Corona-Pandemie anfallenden Kosten gesondert ausgewiesen oder als interne Kosten in die Kalkulation des Grundhonorars “eingepreist” werden, steht dabei grundsätzlich dem Sachverständigen als Unternehmer zu; es darf nur nicht beides kumulativ erfolgen.

Vorinstanzen:

Amtsgericht Nordhausen – Urteil vom 5. Januar 2022 – 26 C 357/21

Landgericht Mühlhausen – Urteil vom 7. September 2022 – 1 S 12/22

Die maßgeblichen Vorschriften des Bürgerliches Gesetzbuches (BGB) lauten:

§ 249 Art und Umfang des Schadensersatzes

(1) Wer zum Schadensersatz verpflichtet ist, hat den Zustand herzustellen, der bestehen würde, wenn der zum Ersatz verpflichtende Umstand nicht eingetreten wäre.

(2) Ist wegen Verletzung einer Person oder wegen Beschädigung einer Sache Schadensersatz zu leisten, so kann der Gläubiger statt der Herstellung den dazu erforderlichen Geldbetrag verlangen. (…)

§ 398 Abtretung

Eine Forderung kann von dem Gläubiger durch Vertrag mit einem anderen auf diesen übertragen werden (Abtretung). Mit dem Abschluss des Vertrags tritt der neue Gläubiger an die Stelle des bisherigen Gläubigers.

Quelle: Pressemitteilung des Bundesgerichtshofs Nr. 086/2024 vom 15.04.2024

Bundesgerichtshof zur Reichweite eines vertraglichen Gewährleistungsausschlusses beim Kauf eines rund 40 Jahre alten Gebrauchtwagens

10. April 2024

Urteil vom 10. April 2024 – VIII ZR 161/23

Der unter anderem für das Kaufrecht zuständige VIII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat sich heute mit der Frage befasst, ob sich der Verkäufer eines fast 40 Jahre alten Fahrzeugs mit Erfolg auf einen vertraglich vereinbarten allgemeinen Gewährleistungsausschluss berufen kann, wenn er mit dem Käufer zugleich vereinbart hat, dass die in dem Fahrzeug befindliche Klimaanlage einwandfrei funktioniere, und der Käufer nunmehr Mängelrechte wegen eines Defekts der Klimaanlage geltend macht.

Sachverhalt:

Der Kläger erwarb im März 2021 im Rahmen eines Privatverkaufs von dem Beklagten zu einem Kaufpreis von 25.000 € einen erstmals im Juli 1981 zugelassenen Mercedes-Benz 380 SL mit einer Laufleistung von rund 150.000 km.

In der Verkaufsanzeige des Beklagten auf einer Onlineplattform hieß es unter anderem: “Klimaanlage funktioniert einwandfrei. Der Verkauf erfolgt unter Ausschluss jeglicher Sachmängelhaftung”.

Im Mai 2021 beanstandete der Kläger, dass die Klimaanlage defekt sei. Nachdem der Beklagte etwaige Ansprüche des Klägers zurückgewiesen hatte, ließ dieser die Klimaanlage – im Wesentlichen durch eine Erneuerung des Klimakompressors – instandsetzen. Mit der Klage verlangt er von dem Beklagten den Ersatz von Reparaturkosten in Höhe von rund 1.750 €.

Bisheriger Prozessverlauf:

Die Klage hat in den Vorinstanzen keinen Erfolg gehabt.

Nach Auffassung des Berufungsgerichts stehe dem geltend gemachten Schadensersatzanspruch der zwischen den Parteien vereinbarte Gewährleistungsausschluss entgegen. Dieser erstrecke sich auch auf einen etwaigen Mangel an der Klimaanlage.

Zwar sei nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (Urteil vom 29. November 2006 – VIII ZR 92/06) eine gleichzeitige Vereinbarung einer bestimmten Beschaffenheit der Kaufsache einerseits und eines umfassenden Ausschlusses der Gewährleistung andererseits regelmäßig dahin auszulegen, dass der Gewährleistungsausschluss nicht für das Fehlen der vereinbarten Beschaffenheit gelten solle.

Jedoch müsse bei einem rund 40 Jahre alten Fahrzeug auch im Falle einer – hier hinsichtlich der Klimaanlage getroffenen – Beschaffenheitsvereinbarung angesichts der unvermeidlichen und teils gebrauchsunabhängigen Alterung einzelner Bauteile selbst dann, wenn es sich um einen hochwertigen und gepflegten Pkw handele, stets mit dem Auftreten von Instandsetzungsbedarf gerechnet werden. Demgemäß habe der Kläger in Anbetracht des Gewährleistungsausschlusses nicht erwarten dürfen, dass die schon lange Zeit über ihre technische Lebensdauer hinaus betriebene Klimaanlage auch weiterhin funktionieren werde.

Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger sein Klagebegehren weiter.

Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs:

Die Revision des Klägers hatte Erfolg. Der Bundesgerichtshof hat entschieden, dass der Beklagte sich gegenüber dem hier im Streit stehenden Schadensersatzanspruch des Klägers nicht mit Erfolg auf den vereinbarten Gewährleistungsausschluss berufen kann.

Nach gefestigter höchstrichterlicher Rechtsprechung ist in den Fällen einer (ausdrücklich oder stillschweigend) vereinbarten Beschaffenheit im Sinne von § 434 Abs. 1 Satz 1 BGB aF (nunmehr § 434 Abs. 1, 2 Satz 1 Nr. 1 BGB) ein daneben vereinbarter allgemeiner Haftungsausschluss für Sachmängel dahin auszulegen, dass er nicht für das Fehlen der vereinbarten Beschaffenheit, sondern nur für sonstige Mängel, nämlich solche im Sinne von § 434 Abs. 1 Satz 2 BGB aF, gelten soll. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts – das zwar rechtsfehlerfrei von einer hinsichtlich der einwandfreien Funktionsfähigkeit der Klimaanlage getroffenen Beschaffenheitsvereinbarung ausgegangen ist – kommt eine von diesem Grundsatz abweichende Auslegung des Gewährleistungsausschlusses nicht in Betracht.

Der Umstand, dass der Beklagte nicht erst im schriftlichen Kaufvertrag, sondern bereits in seiner Internetanzeige – unmittelbar im Anschluss an die Angabe “Klimaanlage funktioniert einwandfrei” – erklärt hat, dass der Verkauf “unter Ausschluss jeglicher Sachmängelhaftung” erfolge, erlaubt es nicht, den vereinbarten Gewährleistungsausschluss dahingehend zu verstehen, dass er sich auf die getroffene Beschaffenheitsvereinbarung über die (einwandfreie) Funktionsfähigkeit der Klimaanlage erstreckt. Denn gerade das – aus Sicht eines verständigen Käufers – gleichrangige Nebeneinanderstehen einer Beschaffenheitsvereinbarung einerseits und eines Ausschlusses der Sachmängelhaftung andererseits gebietet es nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, den Gewährleistungsausschluss als beschränkt auf etwaige, hier nicht in Rede stehende Sachmängel nach § 434 Abs. 1 Satz 2 BGB aF aufzufassen, da die Beschaffenheitsvereinbarung für den Käufer andernfalls – außer im (hier nicht gegebenen) Fall der Arglist des Verkäufers (§ 444 Alt. 1 BGB) – ohne Sinn und Wert wäre.

Insbesondere aber rechtfertigen in einem Fall, in dem – wie hier – die Funktionsfähigkeit eines bestimmten Fahrzeugbauteils den Gegenstand einer Beschaffenheitsvereinbarung bildet, weder das (hohe) Alter des Fahrzeugs beziehungsweise des betreffenden Bauteils, noch der Umstand, dass dieses Bauteil typischerweise dem Verschleiß unterliegt, die Annahme, dass ein zugleich vereinbarter allgemeiner Gewährleistungsausschluss auch für das Fehlen der vereinbarten Beschaffenheit gelten soll. Diese Umstände (Alter des Fahrzeugs, Verschleißanfälligkeit eines Bauteils) können zwar für die übliche Beschaffenheit eines Gebrauchtwagens von Bedeutung sein. Sie spielen jedoch weder für die Frage einer konkret vereinbarten Beschaffenheit noch für die hier maßgebliche Frage eine Rolle, welche Reichweite ein allgemeiner Gewährleistungsausschluss im Fall einer vereinbarten Beschaffenheit hat. Vielmehr findet der Grundsatz, dass ein vertraglich vereinbarter allgemeiner Gewährleistungsausschluss die Haftung des Verkäufers für einen auf dem Fehlen einer vereinbarten Beschaffenheit beruhenden Sachmangel unberührt lässt, auch dann uneingeschränkt Anwendung, wenn der Verkäufer die Funktionsfähigkeit eines Verschleißteils eines Gebrauchtwagens zugesagt hat.

Nach alledem hat der Senat das Urteil des Berufungsgerichts aufgehoben und zur neuen Verhandlung und Entscheidung an dieses zurückverwiesen.

Vorinstanzen:

AG Wetzlar – 30 C 269/22 – Urteil vom 4. Oktober 2022

LG Limburg a. d. Lahn – 3 S 124/22 – Urteil vom 30. Juni 2023, veröffentlicht in juris

Die maßgeblichen Vorschriften lauten:

§ 434 BGB Sachmangel (in der bis zum 31. Dezember 2021 geltenden Fassung)

(1) 1Die Sache ist frei von Sachmängeln, wenn sie bei Gefahrübergang die vereinbarte Beschaffenheit hat. 2Soweit die Beschaffenheit nicht vereinbart ist, ist die Sache frei von Sachmängeln,

1. wenn sie sich für die nach dem Vertrag vorausgesetzte Verwendung eignet, sonst

2. wenn sie sich für die gewöhnliche Verwendung eignet und eine Beschaffenheit aufweist, die bei Sachen der gleichen Art üblich ist und die der Käufer nach der Art der Sache erwarten kann.

[…]

§ 437 BGB Rechte des Käufers bei Mängeln

Ist die Sache mangelhaft, kann der Käufer, wenn die Voraussetzungen der folgenden Vorschriften vorliegen und soweit nicht ein anderes bestimmt ist,

[…]

3. nach den §§ 440, 280, 281, 283 und 311a Schadensersatz oder nach § 284 Ersatz vergeblicher Aufwendungen verlangen.

Karlsruhe, den 10. April 2024

Quelle: Pressemitteilung des Bundesgerichtshofs Nr. 082/2024 vom 10.04.2024

Betriebsratswahl bei Tesla im März 2024 kann stattfinden

10. März 2024

In einem von der Gewerkschaft IG Metall eingeleiteten Eilverfahren hat das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg heute – anders als erstinstanzlich das Arbeitsgericht Frankfurt (Oder) – die Durchführung der Betriebsratswahl im März 2024 nicht untersagt.

In der Tesla Gigafactory in Grünheide wurde am 28.02.2022 erstmalig ein Betriebsrat gewählt, der bei damals rund 2.300 Beschäftigten aus 19 Betriebsratsmitgliedern bestand. Anfang Januar 2024 war die Zahl der Beschäftigten auf rund 12.500 angestiegen. Nach der gesetzlichen Regelung ist ein Betriebsrat vor Ablauf der regelmäßig vierjährigen Amtszeit neu zu wählen, wenn mit Ablauf von 24 Monaten ab dem Tag der Wahl die Zahl der regelmäßig beschäftigten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer erheblich – um die Hälfte, mindestens aber um 50 Personen – gestiegen oder gesunken ist (§ 13 Absatz 2 Nr. 1 Betriebsverfassungsgesetz). Der im Februar 2022 gewählte Betriebsrat bestellte Anfang Januar 2024 einen Wahlvorstand zur Vorbereitung und Durchführung der Wahl eines neuen Betriebsrats mit 39 Mitgliedern. Vom 29.01.2024 bis zum 11.02.2024 fand aufgrund von Zulieferproblemen kein Produktionsbetrieb bei Tesla statt. Der Wahlvorstand erließ am 01.02.2024 ein Wahlausschreiben, forderte die Beschäftigten zur Abgabe von Vorschlagslisten bis zum 15.02.2024 auf und lud sie zur Betriebsratswahl Mitte März (18. bis 20.03.2024) ein.

Gegen die Durchführung dieser Betriebsratswahl hat sich die IG Metall als im Betrieb vertretene Gewerkschaft mit der Begründung gewandt, die Wahl sei zwingend nichtig und deshalb abzubrechen. Dies folge vor allem daraus, dass der Zeitraum von 24 Monaten ab dem vorausgegangenen Wahltag am 28.02.2022 nicht abgewartet worden sei. Der Wahlvorstand hätte aus Sicht der Gewerkschaft erst ab dem 29.02.2024 bestellt werden dürfen. Durch die verfrühte Einleitung der Wahl hätten die Beschäftigten wegen des Produktionsstopps Anfang Februar 2024 außerdem nicht ausreichend Gelegenheit zur Aufstellung von Vorschlagslisten gehabt. Der Wahlvorstand und die Tesla Manufacturing Brandenburg SE als Arbeitgeberin gehen davon aus, dass es für den gesetzlich geregelten Zeitraum von 24 Monaten darauf ankomme, dass die Wahl selbst erst danach durchgeführt werde, während Maßnahmen zur Vorbereitung der Wahl schon vor Ablauf der Frist zulässig seien. Vorschlagslisten seien ungeachtet des Produktionsstopps eingereicht worden. Ein etwaiger Verstoß gegen die gesetzliche Regelung sei jedenfalls nicht so schwerwiegend, dass eine Nichtigkeit der Wahl anzunehmen sei.

Das Arbeitsgericht Frankfurt (Oder) hatte mit Beschluss vom 13.02.2024 die weitere Durchführung der Betriebsratswahl untersagt und bestimmt, dass die Neuwahl erst ab dem 29.02.2024 eingeleitet werden dürfe. Die gesetzliche Frist von 24 Monaten müsse zwingend abgewartet werden. Ein Verstoß dagegen führe zur Nichtigkeit der Wahl mit der Folge, dass die Wahl abzubrechen sei.

Das Landesarbeitsgericht hat heute entschieden, dass die bereits eingeleitete Wahl nicht abzubrechen sei. Ein Abbruch der Wahl im gerichtlichen Eilverfahren sei nur dann veranlasst, wenn deren Nichtigkeit absehbar sei. Zwar liege ein Verstoß gegen die gesetzliche Fristenregelung vor. Dieser Verstoß und weitere gerügte Verstöße seien jedoch nicht so schwerwiegend, dass von der Nichtigkeit der Wahl auszugehen sei. Eine mögliche Anfechtbarkeit der Wahl genüge für einen Abbruch nicht. Nach Durchführung der Wahl könne deren Wirksamkeit im Einzelnen gerichtlich geprüft werden, falls ein Wahlanfechtungsverfahren eingeleitet werde. Soweit die Gewerkschaft im Beschwerdeverfahren auch Korrekturen des Wahlverfahrens durchsetzen wollte, hatte sie damit keinen Erfolg. Nach der Entscheidung des Landesarbeitsgerichts ist für die Anordnung solcher Korrekturen im gerichtlichen Eilverfahren auf Wahlabbruch jedenfalls dann kein Raum, wenn durch Korrekturen bereits vorhandene Fehler des Wahlverfahrens nicht mehr beeinflusst werden könnten.

Gegen die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts im einstweiligen Rechtsschutz ist kein Rechtsmittel gegeben.

Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 06.03.2024, 11 TaBVGa 135/24

Quelle: Pressemitteilung Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg Nr. 3/24 vom 07.03.2024